Start Magazin Geschichte/n Vom „gestohlenen“ Pfarrer und gesperrten Wegen

Vom „gestohlenen“ Pfarrer und gesperrten Wegen

Das Selgersdorfer Pfarrarchiv ist beispielhaft für lebendige Dorfgeschichte und das Angebot des Bischöflichen Diözesanarchivs.

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Übergabe des Findbuchs (v.r.) von Diözesanarcharin Dr. Beate Sophie Fleck an Dr. Peter Nieveler und Propst Josef Wolff. Foto. Anja Klingbeil
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Pfarrarchiv. In dem Wort klingt gemeinhin zwischen den Zeilen eine notwendige Pflicht mit und weniger das Bewusstsein, welch hochspannende Ortsgeschichten damit verknüpft sind. Eine Erkenntnis, die einen sehr schnell beim Besuch des Bischöflichen Diözesanarchivs in der ehemaligen Kirche St. Paul an der Jakobstraße überkommt.

Pfarrer Thomé Foto: Anja Klingbeil

„Das ist der gestohlene Pastor von Selgersdorf“, weist Dr. Peter Nieveler auf das frisch restaurierte Bildnis eines Mannes hin und grinst verschmitzt. „Joseph Thomé hieß der Mann.“ Von 1853 bis 1855 hatte sich der Seelsorger in die Herzen der Gemeinde gedient und gepredigt, so dass sie ihn unbedingt in dem kleinen – heute 800 Einwohner starken – Ort beerdigen wollten. Das sahen die Erben anders. „Da haben sie den Sarg gestohlen. Und im Keller unter der Sakristei versteckt“, weiß der 88-jährige, der seit über 50 Jahren Selgersdorf sein zu Hause nennt und sich bis heute leidenschaftlich der Geschichte des Jülicher Landes widmet. Dieses Histörchen verwandelte Pfarrer Josef van Gils, der von 1932 bis 1956 in Selgersdorf lebte, in ein Bühnenstück. „Es gibt auch noch Bildchen, Fotos zu diesem Theaterstück und es leben noch Menschen, die in dem Stück mitgespielt haben“, schmunzelt Dr. Nieveler und plaudert weiter aus dem Nähkästen von Pfarrern, die als Strafe für Fehlverhalten von seinen Schäfchen die Friedhofstüren absperren ließ. Dabei  hatte er wohl die Konsequenz nicht im Blick: Dass nämlich der Weg von Hambach über Daubenrath und Selgersdorf nach Schophoven in Richtung Eschweiler führte. Der Gemeinderat nötigte den Seelsorger daher, die Türen wieder zu öffnen.

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Solche Geschichtsentdeckungen macht, wer die rund 1000 Archivalien des Pfarrarchivs von St. Stephanus Selgersdorf sichtet. Schließlich führte sie zur Erkenntnis, dass das Archiv nicht nur vernachlässigt war, sondern auch in einem schlechten Zustand. Die Jahre, Kriege – ein Buch mit wortwörtlichem „Durchschuss“ ist erhalten – und Feuchtigkeit haben den Büchern und Dokumenten, Ordnern und Bildnissen, Listen, Urkunden, architektonischen Zeichnungen und Korrespondenzen zugesetzt. Die älteste Archivalie geht auf das Jahr 1604 zurück. Es bestand Handlungsbedarf. Dr. Nieveler brachte ab 2016 bis September 2021 das Pfarrarchiv in insgesamt 80 Kartons Stück für Stück zu Dr. Beate Sophie Fleck.

Nach der Aussage Leiterin des Diözesanarchivs handelt es sich um eines der umfangreichsten Pfarrarchive im Bistum Aachen. Vergleichbar sind wohl jene in Blankenheim, in St. Vitus Mönchengladbach und Nörvenich. „Die meisten haben höchstens ein Drittel des Umfangs“, sagt Dr. Fleck.

Foto: Anja Klingbeil

In den vergangenen fünf Jahren haben sich Diözesanarchivleiterin Fleck und ihr Team unter Mithilfe externer Dienstleister des ungewöhnlich umfangreichen „Stoffes“ angenommen. Eine Reihe von Akten in schlechten Zustand mussten restauriert werden. „Wir können das selbst im Haus nicht mehr,“ verweist die Fachfrau auf Kosten, einen – angesichts der Aufgabenfülle – überschaubaren Personalstamm von viereinhalb Stellen und die fehlende Werkstatt. Die Kooperation mit dem Landschaftsverband ist darum im wahrsten Sinne Geld wert. Durch Landesmittel gefördert können die Restaurierungen beim LVR vorgenommen werden. Aller Regel nach liegt der Zuschuss bei 60 Prozent. 40 Prozent trägt das Bistum Aachen. Das gilt auch für das Projekt „Pfarrarchiv Selgersdorf“ Insgesamt habe der LVR für die Sicherung allein dieses Archivs eine größere vierstellige Summe beigesteuert. Die Pfarrei kostet dieser Service nichts.

„Das muss man sich mal klar machen: Unser Eigentum ist hier in hervorragender Verwahrung. Aber es wird nicht nur verwahrt, es wird restauriert, indiziert, digitalisiert – und das kostet uns nichts“, unterstreicht Propst Josef Wolff, dem als Leitung der Pfarrei Heilig Geist Jülich auch die Gemeinde St. Stephanus Selgersdorf untersteht, seinen Dank. Es geht praktisch um die Rettung von Kirchengeschichte in einer Zeit, wie Dr. Beate Fleck sachlich feststellt, „in denen es in den meisten Pfarreien nicht mehr die Ehrenamtlichen, gibt die sich ums Archiv kümmern oder den Pfarrer, der die Zeit dafür hat.“ „Man kann nur alle einladen, dass diejenigen die vor Ort niemand mehr haben, der sich kümmert, sich hier melden und um Hilfe bitten, ehe das Archiv verkommt oder verloren geht.“

Foto: Anja Klingbeil

Vor knapp vier Jahren ist das Archiv an neuen Standort an der Jakobstraße gezogen, damit Pfarreien auch in größerem Umfang ihre Dokumente an das Archiv geben können, wo sie klimatisch und sicherheitstechnisch gut aufgehoben werden können. Der zusätzliche Gewinn für die Pfarreien besteht darin, dass sie weiterhin vollständig Zugriff auf „ihr“ Archiv haben. Von einem externen Dienstleister wurde ein Verzeichnis der Dokumente erstellt, die ein einem so genannten „Findbuch“, katalogisiert und damit nutzbar gemacht wurden. Im Findbuch gebündelt gibt es zu jedem Dokument eine kurze inhaltliche Angabe, den Zeitraum und die Signatur, damit bei Bedarf das genau passende Stück jederzeit identifizierbar ist. Auch für diese Arbeiten gab es eine Förderung durch den Lanschaftsverband. Im Digitalisierungszentrum des LVR wurden zusätzlich die Kirchenbücher eingescannt und somit digitalisiert, die auf der Plattform Matricula im Internet für jeden Interessierten kostenlos einsehbar sind. Nutzbar werden die Unterlagen dadurch natürlich auch für jede Art der Forschung.

Der Platz, das versichert Dr. Beate Sophie Fleck, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Pfarreien, die den Dienst an den Archivalien und gesicherte Aufbewahrung ihrer Archive in Anspruch nehmen wollen, können sich gerne bei ihr melden. Aus der Pfarrei Heilig Geist Jülich ist auch das nächste Pfarrarchiv angeliefert worden: St. Martinus Barmen.


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