Ich blicke an mir herunter und nehme die zahlreichen Gewichte überall am Körper in Augenschein, die gerade an mir angebracht worden sind. Ein Selbstversuch mit dem Demenzsimulator Hands-on Dementia, den der Caritasverband Düren-Jülich mit Unterstützung der Bürgerstiftung Düren als Schulungsmittel anschaffen konnte.
Manschetten sorgen dafür, dass ich meine Gelenke nur noch schwer bewegen kann. Ich hebe meinen Fuß hoch und habe kurz das Gefühl, mit Klettverschluss am Boden festgehalten zu werden. Meine Bewegungen sind jetzt deutlich schwerer, langsamer, ungelenker. Um mich wieder hinsetzen zu können, muss ich mich die letzten Zentimeter in den Stuhl fallen lassen. Die Lehne fängt mich auf. Ich stecke in Gert – einem Altersanzug, der die körperliche Verfassung von Senioren simulieren soll. Aber wozu das Ganze? In einem Wort: Verständnis. Mit dem Anzug sollen Alter und Krankheit nachfühlbar werden.
Durch die Halskrause etwa wird die Beweglichkeit meines Nackens eingeschränkt. Ich kann mit dem Blick nicht der Richtung meiner Bewegung folgen. Daniela Groß, die Sozialarbeiterin in der Fachstelle Demenz des Caritasverbandes Düren-Jülich, erklärt, dass die Angst vor Bewegung, wie eine Treppe hinunterzugehen oder in ein Taxi einsteigen zu wollen, wachse, wenn man nicht sehen kann, wohin man sich bewegt. Mancher Senior vermeidet deswegen immer mehr die Bewegung. Ein Teufelskreis, denn weniger Bewegung führt zu weniger Beweglichkeit. So kann auch Flüssigkeitsmangel entstehen, „wenn man aus Angst vor der Bewegung weniger trinkt, um Toilettengänge zu vermeiden“, sagt Groß.
Zusammen mit Petra Sieben, der Fachbereichsleiterin für Ambulante Pflege und Betreuung, zu der auch die Fachstelle Demenz gehört, hat sie zum ersten Mal den brandneuen Demenz-Parcours mit aktuell zwölf Stationen aufgebaut. Genutzt wird die Simulation vor allem von Angehörigen älterer Menschen und auch für Auszubildende in der Pflege, die sich mit der Erfahrung des Alters für die Pflege von Senioren fortbilden können.
Ich heiße jetzt Erna Müller und erlebe den Alltag einer älteren demenzkranken Person. Jede Station des Parcours stellt eine typische Situation im Tagesablauf dar. Auf dem ersten Tisch liegt ein Paar dicke Lederhandschuhe und ein Kittel mit großen Knöpfen. Erna hat am Morgen Probleme, ihre Kleidung anzulegen, weil die Hände schwerer gehen und sie Schwierigkeiten hat, zwischen den einzelnen Kleidungsstücken aufgrund ihrer Demenz nicht den Faden zu verlieren. „Ganz besonders schwer fällt es ihr, den Haushaltskittel zuzuknüpfen. Das schafft sie nicht mehr. Die Gelenke tun ihr weh, und die Finger sind manchmal fast taub. Das macht es noch schwerer, weil sie die Knöpfe nicht mehr fühlen kann“, steht in der Broschüre. Bis 36 soll ich zählen, während ich die Knöpfe schließe.
Meine Hände sind durch die dicken Handschuhe stark in ihrer Haptik eingeschränkt, außerdem ziehen die Gewichte meine Handgelenke nach unten. Als ich bei 25 angelangt bin, habe ich noch nicht einen Knopf geschlossen. Ich schaffe es einfach nicht, die Knöpfe und den dünnen Stoff des Kittels zusammenzuführen. „Mama, das ist doch ganz einfach!“, steht in der Broschüre. „Ist es nicht“, denke ich mir und zähle nach einer hochkonzentrierten Zählpause von fünf Sekunden laut bei 29 weiter. Und ehrlich gesagt hat „Mama“ auch gar keinen Bock mehr, den Kittel zu schließen. „36“, sage ich, die Zeit ist um. Der Kittel ist immer noch offen. „Es kribbelt und macht einen angreifbar. Ich habe es auch nicht geschafft, als ich es ausprobiert habe“, sagt Petra Sieben, die meine Aufregung nachfühlend empathisch die Hände zu Fäusten geballt hat. Auch Daniela Groß lächelt mich wissend an und sagt: „Deswegen ist es besser, auf Kleidungsstücke mit Knöpfen zu verzichten und auf Kleidungsstücke auszuweichen, die nicht umständlich geschlossen werden müssen.“ Zustimmend nickend blicke ich leicht frustriert den nächsten elf Stationen entgegen und streife das lila-geblümte Teil unverrichteter Dinge umständlich wieder ab, da ich nur noch meine Schultergelenke frei bewegen kann.
Jetzt kommt der Einkauf. Kurz wird mir eine Liste vor die Augen gehalten. Die Artikel und Preise muss ich mir merken und aufschreiben. Der Haken an der Sache: Ich muss meine Hände in eine Holzkiste legen, in der ein spezieller Spiegel die Augen-Hand-Koordination von demenziell Erkrankten simuliert. Das Merken ist die eine Sache, das Schreiben fast schon ein Ding der Unmöglichkeit. Überrascht betrachte ich die völlig schief geschriebenen Wörter. „Dieses Phänomen sieht man auch bei den Unterschriften demenziell Erkrankter“, erklärt Sieben. Oft werde dann im Laden das gekauft, was schlicht als gut und wichtig betrachtet wird. Ähnliches erlebe ich bei der Station „Arbeit im Haushalt“. Hier soll ich kleine Gegenstände aufheben und sortieren. Demenziell Erkrankte können manchmal Abstände nicht mehr einschätzen. Das Aufheben und Ablegen der Murmeln wird zur kognitiven Schwerstarbeit.
Auch beim Sprechen können sich Dinge verändern. Immer wieder passiere es, dass Menschen mit Demenz Konsonanten in den Wörtern vertauschten. Daniela Groß liest mir eine Einkaufsliste vor, wie sie eine demenziell Erkrankte an einen Angehörigen durchgeben würde. Binderraten, Hockentrefe und Fundehutter verstehe ich. Bei Wiki oder Trizone hört es mit dem Hörverstehen auf. Wichtig: Es geht darum, als betroffener Angehöriger zu verstehen, dass das Gegenüber nicht willentlich anders spricht. Ein „Sprich vernünftig!“ hilft da wenig. „Aggressionen des Umfeldes führen zu Verzweiflung“, sagt Groß. Manche Menschen reagieren auf das Unverständnis, indem sie sich in sich selbst zurückziehen, andere werden aggressiv.
Mittlerweile hat es auch bei mir „Klick“ gemacht. Ich akzeptiere, dass manche Aufgaben der Demenzsimulation nicht zu schaffen sind. Später finde ich beim Stöbern in der Broschüre folgenden Hinweis: Die Demenzsimulation ist eine „Erfahrung, die ungewohnt ist und die sich nicht gut anfühlt. Aber so ist es für Menschen mit Demenz eben. Das zu ‚begreifen‘ und nachzuempfinden, hilft Ihnen, die Krankheit und die Menschen, die den Alltag nicht mehr so leicht alleine bewältigen können, besser zu verstehen.“ Das Alter ist eben kein Wettbewerb, und vielleicht ist die Anerkennung der „Langsamkeit“ und des „Weniger-Schaffens“ etwas, was Lebensqualität erhalten kann. „Es ist umgekehrt zu einem Kleinkind, das die ersten Schritte macht, und jeder freut sich. Im Alter werden die Schritte schwerer, aber so ist es eben“, sagt Groß. Ich bin beeindruckt, welche Einblicke die Demenzsimulation erwirken kann, die wertvoll für das ganze Leben sein werden. Für den Umgang mit Menschen in meiner Umgebung, aber auch für mein eigenes Leben im Alter. Erna Müller muss nach dem Einkauf durch eine Baustelle einen fremden Weg nehmen und findet den Weg nach Hause nicht mehr. Nach einem Abendessen und einem sehr langen Tag fällt sie ins Bett.
Viel achtsamer gehe ich die Steinstufen in Richtung Ausgang hinunter. In Gedanken bei den älteren Menschen in meiner Umgebung, die ich jetzt ein Stückchen besser verstehen kann.
Bei den über 80-Jährigen sind rund 30 Prozent von Demenz betroffen; bei den über 90-Jährigen schon jeder Zweite. In der Fachstelle Demenz werden Menschen mit demenziellen Veränderungen und deren Angehörige betreut. Ihnen werden Beratung zur Bewältigung des Alltags und zum Wohnraum geboten, Hilfeleistungen vermittelt oder auch stundenweise Betreuung. Darüber hinaus werden Ehrenamtliche geschult. Kurse und Gesprächsrunden für Angehörige finden derzeit per Videochat statt.
Wer den Demenz-Parcours durchlaufen möchte, wendet sich an Daniela Groß, E-Mail [email protected] oder Telefon 02421 9676 14. Am Dienstag, 21. September, ist Welt-Alzheimertag. Der Caritasverband hat ein Programm initiieren, das im Internet abrufbar ist unter caritasverband-dueren.de.