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„Werden den Lehrermangel ganz brutal erleben“

Vorstand des Philologenverbands im Bezirk Düren schlägt Alarm. Ländlichen Raum attraktiver machen.

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Christoph Heinz (von links), Thomas Floßdorf, Peter Lochner, Seminarleiter Dr. Matthias Henkel, Stephan Ballatré und Lothar Schmitz tauschten sich über die Herausforderungen der Lehrerausbildung im ländlichen Raum aus. Foto: Philologenverband NRW/Bezirk Düren
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Die Gymnasien und Gesamtschulen im Kreis Düren müssen sich in puncto Ausstattung und Infrastruktur nicht vor Schulen in Großstädten verstecken. Im Gegenteil sogar. Ob Haus Overbach und das Mädchengymnasium in Jülich oder das Stiftische Gymnasium in Düren: Sie alle stehen für hervorragende Arbeitsbedingungen. Und dennoch schlägt der Bezirk Düren des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen Alarm: „Wenn wir nicht alle Kräfte bündeln, werden wir schon bald den Lehrermangel im Kreis Düren ganz brutal erleben“, warnt der Bezirksvorsitzende Thomas Floßdorf vor einem Ausbluten des ländlichen Raums. Fakt ist: Bereits seit Jahren hält sich das Interesse angehender Lehrerinnen und Lehrer, nach dem Studium ihren Vorbereitungsdienst außerhalb des Einzugsbereichs von Großstädten anzutreten, in Grenzen. Wer einmal eine Stelle bekommen habe, wechsele auch nicht mehr. Zumal auch in Großstädten Referendare und Lehrer händeringend gesucht werden.

Um sich ein Bild von der Praxisausbildung zu machen, besuchte der Vorstands des Bezirks das Seminar für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Jülich (ZfsL). „Die Auslastungszahlen im ländlichen Raum sinken seit Jahren“, berichtet Seminarleiter Dr. Matthias Henkel. Waren es bis vor fünf Jahren noch 170 bis 180 Referendare pro Jahr, seien es zuletzt nur noch rund 100 gewesen. Nicht nur „Mangelfächer“ wie Musik, Informatik, Physik, Mathe, Chemie und Kunst seien betroffen – in der direkten Konkurrenz zu den Universitätsstandorten Aachen und Köln, wo die meisten Studierenden bereits eine Wohnung haben und beispielsweise kein eigenes Auto von ihren Anwärterbezügen finanzieren müssen, ziehe der ländliche Raum immer den Kürzeren. „Wir brauchen im Kreis Düren eine Werbeoffensive, um aktiv Referendarinnen und Referendare für unsere hervorragenden Schulen zu gewinnen“, fordert der Bezirksvorstand die Politik auf, sich des aufziehenden Problems rechtzeitig bewusst zu werden und gegenzusteuern.

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Benefits, die angehenden Lehrern das Leben und Arbeiten im ländlichen Raum schmackhafter machen könnten, seien beispielsweise Angebote über die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, aber auch kostenlose Fitnessstudio-Mitgliedschaften oder die Bereitstellung eines Deutschland-Tickets. „Es gibt aktuell keine Sensibilität dafür, dass schon heute ein Lehrermangel herrscht, der sich noch massiv verschärfen wird“, sagt Thomas Floßdorf. Bis zum Jahr 2030 werden voraussichtlich 80.000 Lehrer deutschlandweit fehlen. „Wir können uns ausmalen, wo sie am schnellsten fehlen.“

Seminarleiter Dr. Matthias Henkel wirbt bei den Schulen dafür, das Praxissemester in den Fokus zu rücken, um früh möglichst viele Studierende und spätere Lehramtsanwärterinnen und -anwärter an die eigene Schule zu binden. Bereits auf der Homepage der Schule müsste klar erkennbar sein, was die Schule (auch für angehende Lehrerinnen und Lehrer!) bietet, wie das Selbstverständnis ist, welche Möglichkeiten der Betreuung und Unterstützung der Referendarinnen und Referendare es gibt. „Das können die Schulen im ländlichen Raum deutlich besser“, ist er überzeugt, dass hier noch Potenzial schlummert. Das Seminar sei immer offen für Anfragen von Schulleitungen, die bestimmte Personen anfragen. Henkel: „Wir weisen auch zu, wenn die Bedingungen passen.“

Aus Sicht des Philologenverbands gibt es auch strukturelle Probleme, die den ländlichen Raum zusätzlich benachteiligen. Die Seminare in Aachen und Köln nehmen zum 1. November neue Anwärterinnen und Anwärter auf, die (ländlichen) Seminare in Düren und Jülich zum 1. Mai. „Es würde helfen, zeitversetzte Aufnahmetermine mit weniger Schnittmengen zu haben“, sagt Floßdorf. Konkret bedeutet die aktuelle Situation: Wer nach dem Abschluss des Studiums nicht einer Schule im ländlichen Raum zugewiesen werden möchte, wartet noch einige Monate und bewirbt sich dann zum 1. November in Aachen und Köln. Dies war früher nicht möglich und hätte zu einer zweijährigen Sperre geführt.

Generell verliere der Beruf immer mehr an Attraktivität. „Die Arbeitsbelastung nimmt extrem zu, die Hälfte der Lehrer hat Erfahrungen mit Gewaltandrohungen gemacht“, berichtet Christoph Heinz, Seminarbetreuer des Philologenverbands für das ZfsL Jülich. Seminarleiter Dr. Matthias Henkel wusste von Abbruchquoten in Höhe von 15 Prozent eines Jahrgangs zu berichten, die Zahl der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen nehme zu. Auch das, was lange Zeit als unvorstellbar galt, geschieht immer häufiger: Lehrerinnen und Lehrer geben ihre Beamtenurkunde zurück und verlassen das System, das einst als sicherer Hafen galt. Ebenso stellen immer mehr Schulleiterinnen und Schulleiter Anträge auf eine Rückstufung. „Wir beobachten immer mehr, dass Lehrkräfte für Mathe, Physik und Informatik von Wirtschaftsunternehmen angeworben werden“, berichtet Christoph Heinz. Die Diskussion über ein Ende der Arbeit in Teilzeit bereite vielen Kolleginnen und Kollegen Sorge, zumal sich gerade junge Lehrer schon gar nicht mehr zutrauten, mit einer vollen Stelle zu starten. Der Beruf ersticke in Vorschriften und Formularen und zermürbe Pädagogen, die den Kontakt zu ihrer eigentlichen Leidenschaft verlieren – dem Unterrichten.

Der Vorstand des Bezirksverband nahm die vorgetragene Sorge auch um die Gesundheit der (angehenden) Lehrinnen und Lehrer ernst und regte an, Angebote zum Thema Resilienz zu unterbreiten. „Wir prüfen sehr gerne, ob wir die Kursgebühren hier übernehmen können“, sagte Thomas Floßdorf: „Wenn wir nicht massiv Ressourcen in das System Schule stecken, werden wir unsere wichtigsten Ressourcen verlieren.“


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