Renaissance – das heißt Wiedergeburt und steht für eine der innovativsten Epochen in Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft. Wirtschaftsgeograf Prof. Michael Gramm sagt: „Jülich muss sich rückbesinnen und die Rückbesinnung dazu nutzen, sich neu zu gebären. Das ist die Chance, die die Stadt hat.“ Er nennt es „Renaissance 4.0 – traditionell innovativ“. Nach seinem Vortrag im Lenkungskreis Stadtmarketing hat die Politik sich zu einem integrierten Handlungskonzept – kurz IHK – entschlossen. Die Kosten von 100.000 Euro sollen im Vorgriff auf den Haushalt 2018 bereitgestellt werden. Es sind noch Fragen offen.
Es gab bereits die Kulturleitlinien im Jahre 2001, das Konzept 2020, Jülich 2030 und jetzt das integrierte Handlungskonzept 2017. Sind das nicht ein bisschen viele Konzepte für wenig Umsetzung?
Prof. Gramm: Es liegt nicht daran, dass es zu viele Konzept gibt, sondern dass vom ersten Konzept an zu wenig umgesetzt worden ist. Wie ich es in meinem Vortrag vorangestellt habe: Eine Problembeschreibung ist nichts wert, wenn ihr nicht eine Problembewältigung folgt. Nur über die Bewältigung komme ich zu einer Lösung, und selbst wenn ich die Lösung habe, muss ich evaluieren. Das heißt, wenn ich diese vier Schritte konsequent methodisch durchhalte, komme ich zu einem Ergebnis.
Welche Grundvoraussetzungen sind nötig?
Prof. Gramm: Ich brauche einen Basiskonsens der Verhältnisse: Wie viel Wissenschaft habe ich? Wie viel Forschung und Bildung? Wie viel Innenstadt brauche ich? Was ist mein kultureller Auftrag? Diese Dinge müssen miteinander in Bezug gesetzt werden. Jülich hat vier Baustellen: Den Wissenschaftsstandort, den historisch-touristischen Bereich, die Neuentwicklung im Bereich Technologie und Innovation und die Zusammenführung der Dinge in der Fläche. Auf der einen Seite eine Innenstadt, die sich neu erfinden muss – und dann der Bereich der Baugebiete und Flächenentwicklung. Und dann bin ich bei dem Punkt: Jülich leistet sich eine Stadtentwicklungsgesellschaft, die alles macht, nur keine Stadtentwicklung.
Was wäre Ihrer Meinung nach zu tun?
Prof. Gramm: Wenn ich günstiges Bauland als Stadt anbiete, habe ich durchaus Chancen. Ich sehe in Jülich eher die Tendenz, – auch in der politischen Debatte – hochpreisig zu werden. Das ist ein klassischer Fall der Güterabwägung. Will ich den kurzfristigen Verkaufserfolg oder will ich die langfristigen Einnahmen aus der Einkommensteuer? Die Einkommensteuer ist die Trägermasse für die kommunale Wohlfahrt – nicht der Einzelverkauf. Eigentlich brauche ich auch ein Wohnungsbauprogramm in allen Facetten. Was kann ich umsetzen, was ist verträglich? Das müsste eine Stadtentwicklungsgesellschaft leisten.
Wieviel Zeit bleibt für eine Trendwende?
Prof. Gramm: Für das IHK ist es nicht 5 vor 12, sondern 3 Sekunden vor 12.
Das klingt nach einem düsteren Szenario.
Prof. Gramm: Es geht bei einer Analyse nie darum, Angst zu schüren. Die Oberflächlichkeit des Alltags ist der größte Störfaktor. Ich muss mir die Zeit nehmen, eine Nachdenklichkeit erhalten, bei aller Freude und positiver Grundhaltung immer in der Lage sein, neben mich zu treten und zu sehen, wo ich gerade stehe.
Wenn es 3 vor 12 ist wie gelingt es, rechtzeitig die Ziellinie zu passieren?
Prof. Gramm: Entscheidend ist, dass ein Grundwille da ist, eine Veränderung vorzunehmen. Es geht darum, ob wir in der Lage sind, auf den Veränderungszug noch aufzuspringen, und die Geschwindigkeit nicht dazu führt, dass wir uns schon beim Aufspringen verletzen. An diesem Punkt sind wir. Die individuelle Sicht auf die Stadt ist Stärke und Schwäche zugleich. Es verschafft uns die Möglichkeit, den Einwohnern ein Bewusstsein zu geben, wo sie leben. Negativ ist, wenn sich daraus eine Hierarchie ergibt: durch die Vereinsbrille, individuelle Brille oder auch politische Brille. Um das alles zu bündeln, braucht es eine extrem starke Führung. Jülich muss es schaffen – und da ist sicher auch ein Bürgermeister gefordert –, dass einer an der Spitze der Bewegung steht, der sagt: Wir wollen das, wir machen das! Und der natürlich auch versuchen muss, alle mitzunehmen.
Alle mitnehmen… das steht für Bürgerbeteiligung. Rückblickend auf das letzte Projekt „Jülich 2030“ stellt sich die Frage, ob ein solches Verfahren zielführend ist für die Umsetzung, oder nicht eher persönliche Bedürfnisse in den Vordergrund gerückt werden.
Prof. Gramm: Es ist eine gigantische pädagogische und didaktische Herausforderung. Es gibt Büros, die darauf auch vorbereitet sind. Wie heißt das im Rheinland immer so schön: „Jülich ist sehr speziell.“ Das liegt an der Einwohner-Struktur, die eben intellektueller ist, teilweise auch besserwisserisch ist, das macht die Sache nicht einfacher. Ich habe an den Schluss meines Vortrags ein alles erschlagenden Satz von Guiseppe Tomasi di Lampedusa gestellt:
„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert.“
Das ist die Leitlinie, die so ein Prozess auslösen muss. Wenn wir die Wertigkeit dieser Stadt erhalten wollen, müssen wir bereit sein, alles in Frage zu stellen – und zwar um so viel wie möglich von diesen Werten erhalten zu können. Das ist konservatives Handeln im richtig verstandenen Sinne. Wenn wir feststellen, wir fühlen uns wohl, dann muss unsere Frage doch nicht sein: Verträgt dieses Wohlfühlen keine Veränderung? Sondern, mit welcher Veränderung kann ich dieses Wohlfühlen behalten? Hier muss die Politik auch Antworten geben. Das ist verdammt anstrengend.
Bleiben wir noch einmal beim Zeitdruck, unter dem wir stehen. In Jülich sind in der Vergangenheit viele Entscheidungen getroffen worden unter dem Vorzeichen: „Wenn nicht jetzt…dann“. Das steht einer Nachdenklichkeit wohl eher im Wege.
Prof. Gramm: Das Reiz-Reflex-Verhalten ist kein Jülich Phänomen, sondern ein grundsätzliches. Man tappt gerne in die Einzelbetrachtungsfalle: Ein Investor oder eine Idee wird begeistert aufgenommen, ohne zu betrachten, was diese Planung für das Gesamtbild der Stadt bedeutet, oder ob es nur ein betriebswirtschaftlicher Erfolg für den ist, der investieren will. Was macht es mit dem Gemeinwesen? Was macht es mit der ganzen Stadt? Klassische Stadtentwicklung ist, wenn ich beginne, mir diese Fragen zu stellen. Es gehört einiges an Selbstdistanz dazu, wenn man sagen will: wir müssen erstmal gucken. Bremsen heißt manchmal ja auch, zu vermeiden, über‘s Ziel hinaus zu schießen.
Ohne das IHK bereits installiert zu haben, ist in der Stadt schon einiges in Bewegung. Beispiel: Das neue Kreishaus Nord.
Prof. Gramm: Es ist gut und richtig, dass das Kreishaus entsteht. Aber es ist auch ein wunderbares Beispiel für die Widersprüchlichkeit dessen, womit wir umgehen müssen. Wir bauen von der Symbolik her, den Arbeitsplätzen her, der städtebaulichen Entwicklung her, ein in keiner Weise zu unterschätzendes neues Gebäude im Innenstadtbereich. Gleichzeitig verkünden alle Verwaltungen, dass sie bis 2023 möglichst alle Dienstleistungen digital abwickeln wollen. Das heißt ja, dass letztlich die Diskussion, mit dem neuen Kreishaus Publikumsverkehr in die Innenstadt zu ziehen, zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen ist. Deswegen ist das, was hier entsteht, aber trotzdem kein Unsinn. Es ist ein weitere Indikator dafür, dass die Innenstadt eben auch andere Impulse braucht. Ich brauche immer Frequenzbringer – egal ob Handel, Verwaltung oder anderes. Das heißt, ich muss die gesamte Innenstadt, das ist der Sinn des IHKs, in ihren künftigen Aufgabenstellungen und ihrer Wirkmächtigkeit in Frage stellen und neu aufstellen. Der entscheidende Faktor dafür sind die Hausbesitzer. Sie sind in einer nicht zu unterschätzenden Weise zu integrieren.
Stichwort Leerstände-Management?
Prof. Gramm: Wir werden wahrscheinlich – auch wenn man mich dafür totschlägt – in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Entwicklung haben, in der wir im Sinne des Handels vom Markt bis zur Neusser Straße nur noch ein repräsentative Achse haben. Alles andere wird nach und nach verschwinden. Die Schaufensterfronten werden durch Dienstleister ersetzt, die nichts mehr präsentieren, sondern zumachen, damit sie dahinter arbeiten können. Es gibt erst ein steigendes Nutzungsgefälle… Beispielsweise hat die Kleine Rurstraße die Bäckerei als Frequenzbringer verloren und das wird so weitergehen. Das heißt: Ich würde gar keine Leerstandsdebatte mehr führen. Das greift zu kurz. Ich halte es für ziemlich aussichtslos, gegen den Leerstand mit den klassischen Instrumenten aus dem Handelsbereich anzukämpfen. Eigentlich sollte man das eher als Fanal sehen, dass man sich mit der Aufgabenstellung der Innenstadt generell beschäftigen muss. Das ist keine Schelte für Jülich. Städte unter 50.000 Einwohner haben generell das Problem.
Apropos: Jülich wird eine gute Entwicklung im Sinne eines Einwohnerwachstums vorausgesagt. Wo werden die Menschen denn in Zeiten des steigenden Internet-Handels und veränderten Konsumverhaltens einkaufen? Wir kann die Innenstadt aussehen?
Prof. Gramm: Es läuft auf Factory Outlet oder Einkaufsmalls hinaus. Jetzt könnte man wieder sagen: Alles was in USA ist, ist irgendwann auch bei uns… Aber ich glaube, das würde auch zu kurz greifen. Da sind wir wieder bei der Kompaktheit von Erlebnisstrecken.
Das Gegenrezept ist die Kunst. Möglichst viele Geschäfte, die hochspezialisiert sind, müssen für einen großen Einzugsbereiche attraktiv gemacht werden. Es gibt solche Einzelfälle auch in Jülich: Ob es Ehepaar Loven mit seiner Galerie ist oder Dr. Peterheinrich May mit dem „Caseus“, zu dem die Leute aus Köln kommen. Eigentlich braucht die Innenstadt von Jülich so etwas wie einen permanenten Handwerkerinnen-Markt, im Sinne: Das bekomme ich nur hier in Jülich. Das wäre eine klassische Frage, die man in Richtung Handel bringen müsste. Denn von gemeinsamen Internet-Plattform und ähnlichem halte ich gar nichts. Sie können ihren Internet-Handel nicht pflegen, wenn sie vorne als Einzelkämpfer verkaufen müssen. Das hat strukturelle Grenzen.
Ein schönes Beispiel für ein Alleinstellungsmerkmal ist auch Individualisierung durch 3-D-Druck. Jülich ist dafür prädestiniert. Wir haben – Volker Sander wird nicht müde es zu sagen und er hat ja auch recht – einen der erfolgreichsten Studiengang im Bereich Digitalisierung in Deutschland. Warum wird so etwas nicht stärker gesehen und genutzt? Was im Sinne der Kooperation zwischen Stadt –Fachhochschule, Fachhochschule – Forschungszentrum, Forschungszentrum – Stadt mit der Brainergy-Idee – ohne dass das jetzt im Moment jemand sieht oder merkt –im letzten Jahr bewegt worden ist, ist viel. Das ist mir ein Herzensanliegen.
Das Zentrum des Geschehens wäre also der Marktplatz? Gerade um dessen Gestaltung gehen die Meinungen ja weit auseinander.
Prof. Gramm: Ich will nicht sagen, dass ich 1998 nicht die gleichen Entscheidungen getroffen hätte, die jetzt zu dem Bild des Marktes geführt haben. Damals waren die Verhältnisse ganz andere. Aber ich muss natürlich auch bereit sein, Dinge zu korrigieren. Wenn ich heute sehe, dass ich der eigentlichen Funktion eines Marktes wieder mehr Platz geben muss und kann, dann muss ich die Bäume absägen, oder sie versetzen. Und ehrlich: Das Pflaster ist ein regelrechter Schandfleck.
Letztes Stichwort: Stadthallen-Neubau. Ihr Lösungsansatz?
Prof. Gramm: Wenn man Innnestadt neu denken muss, dann bin ich wieder beim Thema „Frequenzbringer“. Darum wird man eine Stadthalle alten Typs tunlichst nicht bauen. Was die Stadt braucht, ist ein multifunktionales Zentrum. Das kann museale oder kulturelle Aspekte haben, Aufenthaltsaspekte und natürlich auch Eventaspekte. Sie muss ich miteinander verbinden, wie im Glaspaleis in Heerlen, das mitten in der Stadt steht. Darin sind verschiedene Funktionsebenen auf verschiedenen Etagen miteinander verbunden. So etwas würde die Innenstadt Jülichs brauchen. Hier müssten die verschiedenen Interessensgruppen Raum finden und ein gerüttelt Maß an den Qualitätsmerkmale sichtbar werden, die Jülich hat. Die müsste man mal in Ruhe aufschreiben und überlegen, wie kann ich sie hier bündeln und in Verbindung bringen. Dann bin ich wieder bei Aristoteles:
„Das Ganze ist immer mehr als die Summe der Teile.“
Das ist die Kunst, die ich eigentlich auch politisch beherrschen muss. Heute noch eine Diskussion darüber zu führen, wo kommt eine neue Stadthalle hin… Die Frage muss heißen: Was braucht die Innenstadt um attraktiv und dynamisch zu sein, um auch als Zentrum über die Stadt hinaus zu strahlen?