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Anja Bedacht

Nackte Männer in der Geburtswanne, essen während der Geburt, manchmal eine Überdosis Esoterik - als Hebamme braucht man starke Nerven und muss auf vieles gefasst sein. „Ein werdender Vater ist mir aber noch nie ohnmächtig geworden, nur mal ein Assistenzarzt… haben wir halt ohne ihn weiter gemacht“, erzählt mir die junge Frau, die mir bei einem Kaltgetränk im Jülicher Pub gegenüber sitzt und lacht. Sie heißt Anja Bedacht und ist von Beruf eben dies – Hebamme.

1991
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Anja Bedacht. Foto: la mechky+
Anja Bedacht. Foto: la mechky+
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Laut Aussage ihres Sohnes ist sie 28 Jahre (ihr richtiges Alter ist der Redaktion bekannt) und lebt seit ihrer Kindheit in Jülich. Gebürtig stammt sie aber aus Frankfurt am Main. Keine echte Muttkrat also, sondern eigentlich ein echtes hessisch Mädchen, sagt sie. Aufgewachsen ist Anja als Einzelkind im Jülicher Heckfeld. Und wenn sie es nicht eh schon wäre, müsste sie zum rheinischen Mädchen ehrenhalber ernannt werden. Denn genau das ist sie: eine rheinische Frohnatur. Der perfekte Tag besteht für sie aus Sonnenschein, Lachen, netten Menschen und Tanzen bis die Füße schmerzen. Und ihren Wellensittichen, die sie seit ein paar Jahren hält – eben auch weil es so fröhliche, freche Tiere sind.

Aber warum Hebamme? Den ersten Kontakt zu diesem Beruf hat Anja eher zufällig schon während der Schulzeit: Durch eine Cousine kann sie ein Wochenendpraktikum auf der Geburtsstation im Krankenhaus in Heinsberg machen und erlebt dort ihre erste Geburt. Danach gibt es kein Halten mehr, es ist Liebe auf das erste Baby und ab da fährt Anja in jeder freien Minute mit ihrem 15 Jahre alten Opel Corsa ins Krankenhaus und hilft aus. „Die Hebammen haben mich immer angerufen und gesagt, Du heute ist das und das oder es steht etwas Besonderes an, das wär doch vielleicht etwas für Dich? Ja, und dann bin ich in mein Auto und da hingetuckert.“ Nach ihrem Fachabi im Jahr 1999 im Sozial- und Gesundheitswesen ist dann endgültig klar: Geburtshilfe soll es werden.

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Es folgt ein freiwilliges soziales Jahr ebenfalls auf der Geburtsstation im Krankenhaus in Heinsberg und danach geht es nach Paderborn an die Hebammenschule. Das es gerade Paderborn wird ist Zufall, sagt Anja, sie hatte sich einfach an diversen Schulen beworben, die in Frage kamen und aus Paderborn kommt eine Zusage. Und so geht es also ab nach Ostwestfalen. Die drei Jahre werden eine trockene Zeit für die lebenslustige Hebammenschülerin im drögen Fast-Sauerland. Gewohnt wird im Schwesternwohnheim bei den barmherzigen Schwestern, einem Nonnenorden, und damit typisch paderbörnsch. Spezialitäten aus der Heimat, ran geschafft vom damaligen Freund, lindern das Heimweh. Die meisten Mitschülerinnen sind am liebsten bei einem Tee Zuhause, da zieht es Anja dann zuweilen alleine raus in die Altstadt. Wir stellen belustigt fest, dass wir die gleiche Lieblingskneipe hatten: Das Sagebuiiiken, eine gemütliche Traditionskellerbar mitten in Paderborn, die ich empfehlen würde, hätte sie nicht mittlerweile im Zuge einer Gentrifizierung (Ja, das gibt es sogar in Paderborn) geschlossen. Aber gut, anderes Thema.

Nach drei Jahren ist die Ausbildung aber geschafft und direkt danach 2004, macht Anja sich als Hebamme selbständig und betreut Schwangere bei Hausgeburten, im Geburtshaus Düren oder begleitet sie wenn nötig auch ins Krankenhaus.

Nach der Geburt von Tino, Anjas Sohn, vier Jahre später wird die Arbeitssituation schwieriger, da der Hebammenberuf Rufbereitschaften mit sich bringt. Es lässt sich eben nicht vorhersagen, wann genau ein Baby kommt. Kurz vor der Geburt ihrer Tochter Kati 2013, holt Anja ihr vorerst letztes Baby auf die Welt – Lutz. Danach folgen zwei Jahre in denen sie ausschließlich Nachsorge anbietet, so lange bis die Sehnsucht nach ihrem eigentlichen „Kerngeschäft“ zu groß wird und sie eine Ministelle im Krankenhaus St. Elisabeth Grevenbroich annimmt. Nur Nachtdienste und mit ganz viel Zeit für jede Einzelne. Ein Traum für jede Hebamme, sagt Anja. Und nur möglich da hier die Geburtenrate nicht so hoch ist – etwa 450 Geburten im Jahr, in den umliegenden Häusern können es im Vergleich auch mal über tausend werden. Zusätzlich bietet sie immer noch Vor- und Nachsorge als freie Hebamme an. Allerdings ist Anja Bedacht da bis weit in die Zukunft ausgebucht.

„Etwa drei Absagen am Tag sind es, die ich machen muss, weil ich einfach nicht die Zeit habe.

Klar ist das auch frustrierend – für mich aber natürlich auch für die Schwangere, die unter Umständen keine betreuende Hebamme finden wird.“

Ihre Berufswahl hat Anja aber nie bereut, auch nicht als die Haftpflichtsätze für Hebammen immer weiter zu steigen beginnen. 2004 lag der Satz noch bei um 1000 Euro, heute sind es über 8000 Euro. Aufgrund der steigenden Haftpflichtkosten würden die meisten freien Hebammen deshalb nur noch Vor-und Nachsorge anbieten, viele haben ganz aufgegeben. Und das sind ja nicht alle Kosten, die man als Selbständige hat. Krankenversicherung, Altersvorsorge oder auch Spritgeld – die Kosten sind in den letzten Jahren extrem gestiegen und machen den Hebammen in Deutschland das Leben immer schwerer. Demgegenüber stehen 220 Euro, die es ohne Zuschläge für eine Geburt von der Krankenkasse gibt. Egal ob diese eine oder zwanzig Stunden dauert. „Natürlich ärgert man sich da und macht sich auch Sorgen um die eigene Zukunft und die Perspektiven. Vor allem wenn dieses Jahr noch so Sachen wie ein Qualitätsmanagement dazukommen, das jede einzelne Hebamme für sich selbst erarbeiten soll. Wer sich mit so etwas auskennt, weiß sicher, wie viel so etwas kostet und wie viel Arbeit es auch ist, die man zusätzlich leisten soll.“

Dennoch ist die Hebammenausbildung gefragt. Der zur Zeit herrschende Hebammenmangel in Deutschland kommt für Anja nicht überraschend. Bei 50 Hebammenschulen, die im Schnitt 20 Schüler aufnehmen und das bei gleichzeitig immer weiter steigender Geburtenzahl, sei es einfach kein Wunder, das der Bedarf in der Geburtshilfe nicht zu decken wäre. Auch deshalb sind die verfügbaren Hebammen überlastet. Durch immer weitergehende Kosteneinsparungen innerhalb der einzelnen Häuser steigen die Geburtenzahlen in den einzelnen Krankenhäusern immer weiter. Völlig klar bei stetig sinkender Anzahl an überhaupt vorhandenen Geburtskliniken.1991 waren es noch 1186 in Deutschland, Ende 2015 sind es schon nur noch 709 (Quelle: statistisches Bundesamt).

„Der Gesetzgeber möchte meiner Meinung nach die Arbeit von uns Hebammen so weit erschweren und einschränken bis es eben keiner mehr leisten kann, um dann große zentrale Nachsorgezentren einzurichten.

Und genau da sehe ich eine riesige Gefahr. So erreicht man die Mütter und Kinder, die eigentlich einer Nachsorge bedürfen nicht mehr. Es ist einfach nicht wahrscheinlich und auch nicht wünschenswert, dass sich eine Mutter mit einer frischen Narbe, womöglich entzündet, oder einem kranken Baby allein ins Auto setzen muss, um erst mal kilometerweit zur Nachsorge zu fahren. Was ist denn, wenn sie zum Beispiel eine Wochenbettdepression hat und gar nicht die Energie aufbringt dorthin zu fahren.

Gerade diese Mütter, die Probleme haben, fangen wir mit unserer Arbeit doch auf. Die fallen ja sonst hinten runter.“ Anja redet sich beim Thema zu Recht richtig in Rage. Auf meine Frage was sie sich von der Politik wünschen würde, antwortet sie Unterstützung. Wenn sie aber einen konkreten Wunsch nennen solle, würde sie sich ein Storchenmobil wünschen, wie es das zum Beispiel in Berlin im Einsatz ist. Dort kann eine Schwangere mit einem Blasensprung einen Rettungswagen bestellen, der extra für Geburten ausgerüstet ist und bei dem eine Hebamme mitfährt. Seit das Krankenhaus Jülich seine Geburtenstation geschlossen hat, müssen Schwangere aus der Herzogstadt nämlich auch mindestens 20 Kilometer Strecke bis zum nächstem Kreißsaal einplanen. Wie soll das aber gehen, wenn man nicht mehr selber Auto fahren kann und womöglich auch niemanden hat, der einen fahren könnte. (Lieber Herr Spelthahn, wenn Sie das also lesen, wäre es nicht eine Überlegung wert? Vielleicht trinken Sie ja mal einen Kaffee mit den Jülicher Hebammen.)
Über 600 Kinder hat Anja Bedacht wohl schon auf die Welt geholt, eine genaue Zahl weiß sie gar nicht. Viele schöne und auch lustige Erinnerungen sind im Gedächtnis geblieben, auch ein paar traurige, aber die schiebt man etwas weiter nach hinten, sagt sie.

Für alle, die sich fragen, was man einer Hebamme als Dankeschön schenken könnte: Schokolade ist gut. Jede, die man ohne Sauerei im Auto essen kann. Für Anja gerne außen knusprig und innen schlotzig. Nur Merci sind nicht gerne gesehen… Die gibt es nämlich unglaublich oft.

Zusammenfassend kann man sagen, wieviel Glück man hat, eine Hebamme zu finden heutzutage. Wenn es dann noch eine so starke und bestärkende, lebensfrohe Person wie Anja Bedacht ist, hat man mindestens doppelt Glück. Man fühlt sich sofort wohl in ihrer Gegenwart, eine wichtige Fähigkeit, muss man als Gebärende doch sehr viel Kontrolle abgeben und fühlt sich oft auch einfach der Situation ausgeliefert. Wie gut es da ist, wenn jemand wie Anja anwesend ist, die den Rücken stärken und Sicherheit geben kann. Wie schade, wenn unser Gesundheitssystem diese Sicherheit als zu teuer erachtet und wie doppelt schade, dass wir uns das gefallen lassen.

Auf meine Frage, was sie macht, wenn sie irgendwann doch einen anderen Beruf aussuchen muss, antwortet Anja: „Dann werde ich LKW Fahrer“ und lacht laut.

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Andrea Eßer
In Jülich geboren und dann nach der Schule ab in den Süden zum Studium der Wortjonglage. Nach einer abwechslungsreichen Lehrzeit mit den Prominenten dieser Welt, überwog das Heimweh nach dem schönen Rheinland und Jülich im Speziellen. Deckname Lottofee, liebt ihre Familie, Süßigkeiten, Kaffee, alles Geschriebene und Torsten Sträter. Anfällig für sämtliche Suchtmittel (nur die legalen natürlich). Hat schon mal eine Ehrenurkunde gewonnen und ihre erste Zeitung bereits mit zehn Jahren herausgegeben. Hauptberuflich strenger Händchenhalter eines Haufens vornehmlich junger Männer. Der Tag hat notorisch zu wenige Stunden für alle Pläne und kreativen Vorhaben, die meiste Zeit etwas verwirrt.

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