Wer die Schreibtischschublade aufzieht, sollte fündig werden: Konzepte für Einzelhandel, Schienenverkehr, ÖPNV und Klimaschatz, Untersuchungen zu vereinzelten Verkehrsflüssen und diverse Planungskonzepte. An Papier mangelt es nicht, wohl aber an Aussagekraft. „Die Stadt Jülich hat eine hohe dynamische Entwicklung“, sagt Gutachter Dipl.-Ing. Jochen Richard, Chef des Planungsbüros Richter-Richard Aachen/Berlin, zu dessen Schwerpunkten die Stadt- und Verkehrsplanung zählen. Was er damit eigentlich sagen möchte: Trotz oder gerade wegen aller einzelnen (meist kleinteiligen) Untersuchungen und Planungskonzepte fehlt es an belastbaren und nachvollziehbaren Informationen, die das „große Ganze“ in den Blick rücken lassen. Wer auf der gemeinsamen Sitzung des Ausschusses für Kultur-, Dorf- und Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung mit dem Planungs-, Umwelt- und Bauausschuss ein druckreifes Handlungskonzept Mobilitätsplan erwartet hatte, muss sich noch etwas in Geduld üben. Aber den Fahrplan zum integrierten Handlungskonzept skizzierte der Gutachter ziemlich zackig.
„Alle bisherigen Untersuchungen sind richtig, fast alle gut, aber eigentlich ist nichts so richtig fertig. Wir haben trotz aller Gutachten keinen Überblick, wie viel Verkehr wo und warum durch diese Stadt fährt“, bilanzierte Jochen Richard. Ohne weitergehende und standardisierte Untersuchungen zur Verkehrsentwicklung aber gebe es keine aussagekräftige Verkehrsprognose. Und ohne evidenzbasierte Zahlen wird auch die Erstellung eines qualifizierten Parkraummanagements schwierig. Zur Prüfung der Umsetzbarkeit beziehungsweise um überhaupt zur Umsetzung zu gelangen, seien vertiefende Betrachtungen und Aktivitäten erforderlich. Ein weiteres Gutachten also. Die gute Nachricht: „Wir müssen nicht bei null anfangen, aber ein paar Sachen zu Ende zu denken“, urteilte Richard. Bislang sei vor allem im Detail diskutiert worden – aber eben nicht im Konzept. Der Verwaltung empfahl er generell, äußerst komplexe Situationen nicht mit der klassischen preußischen Verwaltungsstruktur lösen zu wollen.
Was muss also geschehen, um ein umfassendes Verkehrskonzept entwickeln zu können? Zunächst müssen die einzelnen Inseln miteinander verbunden werden, denn alles hängt mit allem zusammen. Die To-do-Liste ist lang, hier ein Auszug: Erstellung einer Straßenhierarchie und eines Stadtgeschwindigkeitskonzepts, Auswertung der Unfalldaten, Definition von Fußverkehrs-Hauptrouten, Barrierefreiheit in der Fläche erreichen, Weiterentwicklung und Ausbau der Mobilpunkte, qualitative Aufwertung der Hauptachsen und der Stadtzugänge, Fortschreibung des veralteten Klimaschutzkonzept mit stärkerem Schwerpunkt auf dem Verkehr, Erstellung eines integrierten Mobilitätsplans samt dynamischer Mobilitätsplanung, Einpassung von Maßnahmen in den Strukturwandel des Reviers (Fördertöpfe anzapfen), Ermittlung der Potenziale für Schienengüterverkehr im Stadtgebiet. „Das klappt besser, wenn es gelingt, zum Personenverkehr auch Güterverkehr auf die Schiene zu bringen“, empfahl der Gutachter der Politik, frühzeitig und mit langem Atem auch das Gespräch mit der Industrie und den Betrieben zu suchen. „Wenn Sie mich fragen, welche Projekte gelingen würden, lautet die Antwort: Dazu fehlen die Fakten.“
Der wichtigste Schritt, der aber auch am meisten Zeit in Anspruch nehme, sei die Erfassung von Verkehrsdaten mit einheitlichen Vorgaben während eines klar definierten Zeitfensters im gesamten Stadtgebiet. Die bisherigen Einzelmessungen seien kaum miteinander vergleichbar und würden eine darauf basierende Entscheidungsfindung nur verzerren. Zur zeitscheine des „Pakets 1“ sagte der Gutachter: Eine Auftragsvergabe könne bis Ende 2023 erfolgen, damit die Vorbereitungen zum Frühjahr 2024 abgeschlossen sind. Eine Verkehrsuntersuchung sei aber vor einer Wiedereröffnung der Rurbrücke und der Normalisierung der Verkehrsflüsse innerhalb der darauf folgenden acht Wochen nicht sinnvoll. Ebenso wenig eine Untersuchung während der Sommerferien. Das Zeitfenster ist also eng, bis zur Auswertung könne es locker 2025 werden. Ergänzend müsse es Befragungen der Kraftfahrer (Von welchem Startpunkt führt die Fahrt zu welchem Zweck zu welchem Ziel?) und eine Untersuchung des ruhenden Verkehrs geben.
Auf Basis dieser Verkehrszählung und Kraftfahrer-Befragung seien die Potenziale erkennbar, die dahinterstecken. So lässt sich erkennen, welche Straßen die Kapazitätsgrenze längst überschritten haben, wo noch Spielräume für Fußgänger und Radfahrer sind, wie mit KFZ-Verkehr und ÖPNV künftig umgegangen werden kann und soll.
Im „Paket 2“ fasst der Gutachter begleitende Aktivitäten zusammen, die bereits jetzt schon angegangen werden können. Dazu zählen die Weiterentwicklung des Schienenverkehrskonzept, die (politische) Positionierung der Stadt Jülich für die Fortschreibung des Nahverkehrsplans (Richter: Nur was hier drinsteht wird überhaupt eine Chance auf Förderung haben), die Einbindung der Stadt in das überregionale Radverkehrsnetz. „Paket 3“ sind Themen wie die Bearbeitung des Einzelhandelskonzepts, die Aufwertung der Hauptachsen und das Klimaschutzkonzept, die zwar wichtig seien, aber auch im kommenden Jahr noch angegangen werden könnten. „Sie sind aber in vielen Punkten heute schon handlungsfähig, können Entscheidungen treffen“, rief der Gutachter der Politik zu. Wichtig sei auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den finanziellen Rahmenbedingungen, sie Suche nach Spielräumen durch Umschichtung, die Frage, ob Eigenmittel für die Nahverkehrsplanung eingebracht werden können, um neue, zusätzliche Angebote für den ÖPNV zu schaffen.
Wie dringlich es ist, das Zahlenwerk zu komplettieren, um zielgerichtete Entscheidungen treffen zu können, verdeutlichte der Gutachter mit einer groben Schätzung der Verkehrserzeugung. Wenn alle Neubaugebiete fertiggestellt sind, rechnet der Experte mit 18.000 bis 24.000 KfZ-Fahrten mehr. Pro Tag. Mit unbekanntem Ziel. Schwerpunkte der Verkehrszunahme seien im Norden der Stadt und in der Innenstadt. Auf die politischen Entscheidungsträger kommt einiges zu.