Zurück ruft es aus der Kunstgeschichte, zurück tönt es aus der Historie und Geistesgeschichte. Zurück, das stellt sich als Befehl vor das Wort und dreht es um. Wovon ich spreche? Ich spreche von der lateinischen Vorsilbe re = zurück. Die Aktion wird zur Reaktion, die Form zur Reform usw. Wechsel ist ein Kennzeichen des Lebendigen, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Ein- und Ausatmen. Wer einmal Sport getrieben hat, weiß, dass man den Atem im Gleichmaß halten muss. Doch lieber machen wir die Nacht zum Tag und dann geht uns die Puste aus. Wir lieben das Übermaß und irgendwann heißt es dann: Zurück.
In der Kunst gibt es die Renaissance, eine Epoche, die das Zurück zu den Idealen der Antike propagiert. Sie beendet das christliche Dogma des Mittelalters und die Ordnung der sozial festgeschriebenen Rollen gerät ins Wanken. Nur sind das keine Wahlprogramme, das wächst eher unbemerkt heran und als eine Epoche wird die Renaissance erst im Nachhinein fassbar.
So taucht in der Malerei plötzlich die 1000 Jahre lang vergessene Perspektive wieder auf. Man hatte sie nicht gebraucht. Die gültige Perspektive war die Bezogenheit auf einen allmächtigen Gott und innerhalb dieser Ordnung schilderten die Größenverhältnisse im Bild die Bedeutung einer Figur im Geschehen und nicht ihre Position im Raum.
Doch mit der Perspektive wird Gott selbst relativ, denn wenn auch er irgendwo im Raum ist, dann ist er nicht mehr allgegenwärtig. Die in Gott gegründete Geborgenheit des Menschen zerfällt und wird durch die Dynamik im Raum ersetzt: Erdumsegelung, heliozentrisches Weltbild, exakte Wissenschaften. Schicksal ist Leistung, der Körper wird zum Werkzeug, die Entfremdung setzt ein. Mit einem Mal zeigt selbst das Christuskind eine antike, vollständig vorhandene Männlichkeit, die für seinen Auftrag ohne jede Bedeutung ist. Die antiken Götter jagten ja noch mit Vorliebe den irdischen Schönheiten hinterher, da brauchte es eben auch die passenden Werkzeuge. Antike, das ist die Anwesenheit der Götter als Anmut, Harmonie, Spiel, das Schreiten der Nike, die Drehung des Diskuswerfers, der Liebreiz der Kore. Die Götter lieben Verkleidungen und man tut gut daran, hinter jeder Erscheinung einen Gott zu vermuten.
So ist die Renaissance kein Zurück, sondern ein Vorwärts. Und wie jeder Perspektivwechsel bringt dieses plötzlich in den Raum geworfen Sein ein Schwindelgefühl mit sich, das ich einmal auf der Klosterinsel Mont St. Michel habe nacherleben können: bei einem Aufstieg in die Höhe der Anlage als einem Aufstieg in der Zeit und fassbar an ihrem Wahrzeichen, dem heilige Michael, dem Drachentöter.
Beim Eintritt locken die Fachwerkgassen der Profanbauten mit Crepes, Calvados, Cidre. Trubel wie in Rüdesheim, muntere Gassen, von denen ich in das Fundament eintrete, die massiven, das ungeheure Bauwerk tragenden Gewölbe. Hier herrscht ohne Zweifel die Romanik. Steinerne Masse, die in ihrer Materialität und Düsterkeit mehr an eine Höhle als an Architektur erinnern. Das Tragen und Lasten der Steinquader strahlt gleichsam aus dem Dunkel. Ich ziehe den Kopf ein, da sehe ich es das erste Mal an der Stirnwand des geduckten Saales: das überlebensgroße Fresko des hl. Michael mit der Lanze und dem Drachen.
Sie umtanzen sich gleichsam, jede Polarität ist notwendig an ihr Gegenteil gebunden und so miteinander verflochten bilden sie das sinnstiftende Symbol. Der Drache, den wir besiegen müssen, ist Teil von uns. Die Darstellung selbst ist byzantinisch, Umrisszeichnung ohne Individualität und in Lokalfarben gehalten, kein Kolorit, klare, romanische Kraft.
Die Anlage erhebt sich 68 Meter über dem Meeresspiegel, ich steige hinauf und so wie sich die Architektur durch die Jahrhunderte wandelt, so ändert sich auch die Zahl der Besucher. Es gibt keinen Aufzug. Schließlich erreiche ich schon recht vereinzelt eine Halle mit einer riesigen Konstruktion darin. Ihre Funktionalität wirkt durch die Verwendung des Materials besonders martialisch. Das Ineinandergreifen hölzerner Zahnräder, das Zwingen von Baumstämmen in eine mechanische Funktion, das ist wie eine Folter und wie aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen, der auch ein Kind der Renaissance war. Ein Rad, um darin Personen aufzunehmen, die es mit ihrem Gehen in Bewegung setzen, es antreiben, um über Seile und Körbe Baumaterial hier hinauf zu schaffen, um das Bauwerk noch weitere Meter in die Höhe zu treiben. Ein Tretrad.
Also geht es weiter in die Höhe und ich steige mit. Endlich auf der letzten Etage erscheint mir der Michael noch einmal, aber hier ist er als Wandteppich schon nicht mehr mit der Architektur verbunden und auch sonst mit deutlichen Veränderungen dargestellt. In atmosphärischem Hell-Dunkel windet sich der Drache als ekliges Gewürm und ein edler Jüngling rammt ihm die Lanze in den Rachen. Das ist kein Widerstreit mit den eigenen Anteilen mehr, das sind eine Projektion und eine Verteufelung. Ich und das Andere. Von draußen fällt Licht herein, durch das fein ziselierte Messwerk blicke ich in einen Alhambra artigen Innenhof. Architektonisch ist das ein Endpunkt, kein Fundament für Kommendes. Zierrat trägt nicht, aber ich genieße dieses Zierliche, die Sonne, das Spalierobst an den Wänden und trete hinaus.
Unter mir die Bucht, ich befinde mich auf der Höhe von drei aufeinander getürmten Großstadthäusern, ein leichter Schwindel und ich greife an die steinerne Balustrade, tief unten auf halber Höhe schweben Möwen. Ich halte mich fest und lehne den Oberkörper vornüber, Wellen schlagen gegen den Felsen. Es steigt und flutet, dort unten und auch in meinem Magen. Mein Bauch will nicht so allein in dieser Höhe sein. Das ist das neue Lebensgefühl der Renaissance: Individualität, Eigenverantwortung, Expansion, stetig steigen. Aber der Bauch will verbunden sein, er will im Trubel sitzen, er will Cidre trinken und singen.
Hatte nicht am Tor mit dem Fallgitter ein Schild gewarnt? Rückkehr der Flut um 16:30 Uhr. Sie müssen die Parkplätze verlassen. Das Meer kommt zurück, ich darf und muss wieder zurück.