Das 9-Euro Ticket ist seit der Erstauflage im Juni in aller Munde und nicht nur das: Beim Blick auf die Anfang der Woche veröffentlichten Zahlen wohl auch ein Verkaufsschlager: Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. spricht mit 38 Millionen verkaufter Tickets plus Abonnenten bundesweit von „erfüllten Prognosen“. Bei der Rurtalbus waren es bis dahin allerdings nur rund 15.000 verkaufte Tickets.
„Unsere Verkaufszahlen sind weit unter den Erwartungen geblieben“, erläuterte Marius Kesig, Abteilungsleiter Vertrieb bei der Rurtalbus die Zahlen. Grund dafür seien wahrscheinlich die hohe Zahl gekaufter Online-Tickets bei der Deutschen Bahn direkt. Aber vom Bund gebe es ja später die Ausgleichszahlungen an den Kreis Düren, denn es sei egal, wo die Tickets gekauft worden waren. Nur eine regionale Auswertung sei aktuell dadurch nicht möglich und ein möglicher Zuwachs nicht zu beziffern. Aber das bedeute nicht, dass das Ticket hier weniger erfolgreich war, und Schlangen an den Verkaufsstellen gab es trotzdem. „Wenn man die Menge der Tickets insgesamt betrachtet, war es ein Boom“, fasste Guido Berkemeyer vom I-Punkt in Düren zusammen. Das bestätigte auch Hassan El-Boobsi vom Verkaufskiosk in Jülich.
„Am Anfang des ersten Monats habe ich um die 220 Tickets täglich verkauft“, so der Kiosk-Inhaber. Sonst seien es am Tag maximal 50 Stück. Dieser Boom halte am Monatsanfang immer etwas an und ebbe nach fünf Tagen ab, erklärte er. Und am Abend hätten ihm die Knochen wehgetan in der letzten Zeit, denn zum Sitzen sei er nicht mehr gekommen. Das wirft die Frage auf, wie es gewesen wäre, wenn die Verkaufszahlen entsprechend der Erwartungen deutlich höher gelegen hätten.
Und was sagten die Fahrgäste? „Sehr viele Leute, die nie oder lange nicht mehr Zug gefahren sind, sprechen begeistert darüber. Viele hätten gerne eine Verlängerung“, so El-Boobsi. Die Freude in den Augen mancher Menschen, einfach mal nach Hamburg reisen zu können zum Beispiel, sei groß gewesen, Volle Bahngleise, ein zweiter Waggon, deuteten darauf hin, dass es wirklich auch hier in Jülich ein höheres Passagieraufkommen gegeben habe. Die Züge seien „brechend voll“ gewesen. El-Boobsi selbst habe das Ticket übrigens nicht genutzt, weil es zu seinen Arbeitszeiten keine Verbindungen gebe. Es gilt das alte Sprichwort: Was des einen Freud, war des anderen Leid.
Eine Blitzumfrage des HERZOG zeigt, dass die Reisenden zwiegespalten sind. Je nachdem ob das Ticket vornehmlich zum Reisen, oder für das Pendeln zwischen Arbeitsstelle und Zuhause genutzt wurde, fällt das Urteil unterschiedlich aus, dennoch überwogen positive Reaktionen.
Claudia Mertens, eine Jülicherin, die jetzt in New York lebt, war mit ihrer Tochter Alina auf Reise durch die alte Heimat. Sie war begeistert. In 30 Minuten sei sie in Köln gewesen, für nur neun Euro. Überhaupt war die Strecke Jülich-Köln für Jülicher ein häufig genanntes Beispiel für die Preiseinsparung: So zahlt man mit dem 24 Stunden Ticket für eine Person normalerweise 28,40 Euro, also schon mit Rabatt. Das 9-Euro Ticket lohnte sich also locker schon für diese Hin- und Rückfahrt.
Anna aus Heimbach war zum Tegernsee gefahren und hatte das Günstig-Ticket für die letzten Kilometer nach Hause und um München rum genutzt. „Für mich war es eine tolle Erholung. Für meinen Sohn, der im Ruhrgebiet lebt, war es eine Zerreißprobe“, weiß sie. Pendler stehen nach der Arbeit in vollen Zügen.
„Ich hasse es“, brachte es Bärbel Gaida auf den Punkt, die sich in der Rurtalbahn mühsam festhielt und nur einen Stehplatz bekam. Noch dazu war es heiß, nicht nur unter der FFP2 Maske. Sie habe sonst ein normales Ticket und zahle etwa 190 Euro im Monat. „Für den Ärger hier würde ich lieber mehr bezahlen“, sagte sie deshalb, weil sie es täglich machen müsse. Und die Strecke zwischen Düren und Aachen sei eben voll. In der Rurtalbahn gehe es noch, nach Düsseldorf oder Köln sei es deutlich voller, so meinte auch Anna Buß aus Jülich, die den Rabatt im Vergleich zu sonst gezahlten 110 Euro monatlich aber gerne in Anspruch nimmt.
Irmgard Lattermann, eine Rentnerin aus Köln hatte sich das Ticket für alle drei Monate gekauft und in Deutschland neue schöne Fleckchen entdeckt, die sie noch nicht kannte: In Schladern an der Sieg gebe es einen Wasserfall nur zehn Minuten von der Haltestelle entfernt, schwärmte sie und war nur eine von vielen, die dieses Jahr die Heimat bereisten. Sie hatte sogar ihr Auto kurz zuvor verkauft. Das sei schon sehr schwer gewesen, diese Umstellung, denn auch in Köln sei man mit dem Auto teilweise schneller als mit den „Öffentlichen“ räumte sie ein. Ihre besondere Begeisterung galt der unkomplizierten Gestaltung des Tickets: In NRW gibt es so viele verschiedene Verkehrsverbünde mit Tarifen. Das sei kompliziert. Manche Senioren stünden sogar fassungslos vor den Automaten, weiß auch Horst Vöge, Landesvorsitzender vom Sozialverband VDK über seine Zielgruppe, für die er sich insbesondere mehr Barrierefreiheit beim Reisen wünscht. Man schließe sonst ganze Zielgruppen aus.
Egal ob volle Züge den Pendlern das Leben schwer machen, Verbindungen gänzlich ausfallen, für Menschen auf dem Land vielleicht sogar kaum Möglichkeiten bestehen den ÖPNV zu nutzen, oder ob andererseits durch den Rabatt der Bundesregierung ein Reisen mit Bus oder Bahn überhaupt erst möglich wurde – es kommt scheinbar ganz auf die individuelle Situation an, wie das Ticket bewertet wird. Emily Willkom-Laufs, Jülicher Grünen Politikerinnen, fasste ihr Nutzungsexperiment zusammen: Es habe dann Sinn ergeben, wenn man nicht termingebunden unterwegs sei. Ein großer Pluspunkt sei in jedem Falle, dass das Wirrwarr der Tarifzonen entfallen sei.
Einig sind sich die Akteure der Verkehrsverbünde jedenfalls, dass das 9-Euro Ticket für die meisten Menschen ein Erfolg war. Auch Busfahrer Daniel Stanitzky, der auf einer Linie nach Eschweiler unterwegs ist weiß, dass das Ticket gut ankam, auch wenn die Busse deutlich voller gewesen seien, vor allem am Wochenende und in den Ferienzeiten. Marius Kesig von der Rurtalbus hatte sich privat auch ein Ticket geholt und war mit den Kindern gereist. Aus Sicht eines Verkehrsunternehmens komme er jedoch zu ganz anderen Schlüssen.
Ein differenzierter Blick zeigt schnell: Verschiedene Interessengruppen legen den Finger an verschiedenen Stellen in die Wunde des politisch sehr schnell auf den Weg gebrachten Konzepts. Es dürfe nicht alles über den Preis geregelt werden, meinte Kesig. Es gebe zukunftsweisende Digitalisierungsprojekte innerhalb des Aachener Verkehrsverbundes. Das habe viel Geld gekostet und würde bei fortgesetztem Billigangebot zerschlagen. Es gehe um Ausbau und Verbesserung des Angebots, gerade im ländlichen Raum.
Auch sein Kollege Guido Berkemeier sieht ein paar Konstruktionsfehler: Nicht nur, dass es zu Corona Zeiten zu vollen Zügen kam, sei kritisch gewesen. Es seien ganze Zielgruppen umgeschichtet worden in das 9-Euro Konzept, die schon vorher günstige Verträge hatten. Mit Schulträgern zum Beispiel. Ganze Verträge mussten neu berechnet werden, erläuterte Kesig den entstandenen Verwaltungsaufwand, der hinter den Kulissen stattfand.
Die Wünsche des Aachener Verkehrsverbundes an die Politik sind ebenfalls, mehr in Qualität zu investieren. Nahverkehr sei immer defizitär. Wichtig sei es Geld vom Bund zu bekommen, um Qualität aufrecht zu erhalten und dichtere Takte zu erreichen, so Dirk Steinnagel vom AVV. Natürlich werde alles begrüßt, was neue Kunden in den Nahverkehr bringe. Schließlich sei man noch nicht auf Vor-Corona Niveau bei den Fahrgastzahlen. Aber das System müsse gestärkt werden und es müsste auch eine gerechte Verteilung der Mittel geben. Eine Diskussion darüber ist immerhin jetzt in Gang gekommen.