Besonders große Stromausfälle, die oft Millionen von Menschen betreffen, treten durch komplexes und oft nicht-lokales Zusammenspiel vieler Komponenten auf. In Europa hat zum Beispiel 2006 das gezielte Abschalten einer Leitung zum Ausfall großer Teile des europäischen Netzes geführt und bis zu 120 Millionen Menschen betroffen. Solche ungünstigen Kettenreaktionen können sich bereits durch das Abschalten einer einzigen Leitung im Netz aufbauen. In einem fortgeschrittenen Stadium entsteht dann eine schnelle Dynamik, die u.a. auf den automatischen Abschaltvorrichtungen basiert, welche eigentlich der Sicherheit des Netzes dienen sollen. Diese schnelle Dynamik war im Fokus der Untersuchung des Wissenschaftlerteams. Jun.-Prof. Dirk Witthaut vom Forschungszentrum Jülich erklärt die Gründe: „In den letzten Jahren geht der Trend im Stromsektor immer weiter hin zu starker Vernetzung, die Länder sind sehr eng in das europäische Verbundnetz eigebunden. Da so Ausfälle irgendwo in diesem Netz jederzeit auch uns betreffen könnten, müssen wir die Ursachen verstehen. Deshalb beschäftigten uns diese Fragen: Können wir verstehen, wie diese schnellen Prozesse ablaufen? Können wir vorhersagen, welche Leitungen einen großflächigen Stromausfall provozieren können?“
„Der Grundgedanke für die Sicherheitsarchitektur der Stromnetze ist folgender: Fällt irgendein Teil des Netzes aus, dann soll das Stromnetz weiterhin in der Lage sein zu funktionieren. Das Netz nimmt dann einen neuen stationären Zustand ein, um die ‚Fehlstelle‘ auszugleichen. Die Fragestellung, wie dieser stationäre Zustand aussieht, wenn das Netz genug Zeit hat, einen neuen stabilen Zustand zu finden, ist schon vielfach untersucht worden. Für die vergleichsweise kurze Zeitskala der Fehlerkaskaden in Stromnetzen jedoch leistet unsere aktuelle Untersuchung quasi Pionierarbeit“, so Vito Latora, Professor für Komplexe Systeme an der Queen Mary Universität in London.
Die Wissenschaftler untersuchten die Fehlerkaskaden mittels einer Kombination aus Computer-Simulationen und mathematischen Analysen einfacher Netzmodelle. Anhand eines simulierten Netzes, bei dem gezielt Verbindungen unterbrochen werden, wurde der statische Ansatz mit dem neuen dynamischen Ansatz verglichen. Oft zeigt die umfassendere dynamische Sichtweise, dass das Netz komplett instabil werden kann, auch wenn der statische Ansatz noch Stabilität vorhersagt. Insgesamt werden so mehr mögliche Ausfälle entdeckt und der potentielle Umfang eines Ausfalls genauer vorhergesagt. Um die am Modell gefundenen Prozesse mit der Wirklichkeit abzugleichen, wurden Stromleitungs-Netzwerke mit realer Verknüpfungsstruktur untersucht, konkret die spanische, britische und französische Topologie. Dabei wurde das neue Analyseverfahren erfolgreich auf komplexe und realistischere Netze angewendet.
Zudem wurden statistische Untersuchungen zu Ausfällen mittels des dynamischen Ansatzes durchgeführt. Wie viele Leitungen fallen aus, wenn eine zufällige Leitung betroffen ist? „In vielen Fällen sind die Auswirkungen gering, das heißt, es fallen kaum weitere Leitungen aus. Gleichzeitig gibt es einige wenige kritische Leitungen, die zu größeren Ausfällen führen. Insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Anschläge (physisch oder auch virtuell, z.B. durch Hacker) ist es extrem wichtig, solche kritischen Leitungen zu identifizieren und zu entlasten. Daher haben wir, mithilfe des dynamischen Ansatzes, ein Werkzeug entwickelt, das vorhersagt, welche Leitungen kritisch sind.“ beschreibt Dr. Benjamin Schäfer vom cfaed an der TU Dresden.
Schließlich wurden auch erste Untersuchungen zur Ausbreitung von Kaskaden im Netz durchgeführt. „Statt rein geographischer Abstände zwischen verschieden Orten betrachten wir die sogenannte ‚effektive Distanz‘, welche berücksichtigt, wie stark sich unterschiedliche Teile des Stromnetzes gegenseitig beeinflussen können. Hier ist jedoch für ein besseres Verständnis noch weitere Forschung nötig, um schließlich auch Möglichkeiten zu finden, solche Kaskaden zu stoppen“ erklärt Schäfer.