76 Prozent der Jülicher und 84 Prozent der Nicht-Jülicher gaben 2020 ein positives Votum für den Testlauf der „autoarmen Stadt“ ab. Ein Stimmungsbild, so führte Verkehrswissenschaftlerin Dr. Judith Kurte ein, würde die Auswertung – fachbegrifflich Evaluation genannt – zeigen, jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. „Ich würde darauf keinen Verkehrsentwicklungsplan gründen“, meinte sie. Auch wenn es sich nur um drei autoarme Tage 2020 handelte, wertete das Kölner Büro insgesamt drei Wochen – vor und nach den Aktionstagen – Daten aus: Frequenzmessung, Parkhausdaten, Fahrräder und Passantenbefragung gehörten dazu – und die Befragung des Einzelhandels. Fazit: Nach Erkenntnis vom „Team Kurte“ war die Vorjahresaktion ein Erfolg.
76 Prozent mehr Fahrräder wurden gezählt. Hier schlage sicher auch die steigende Quote der E-Bikes zu Buche, war die Expertin Kurte überzeugt, denn von den 227 befragten Menschen gaben 24 Prozent an, sie könnten auch ohne Auto in die Stadt kommen – 50 Prozent der Nicht-Jülicher gaben an, dass auch sie ohne Auto in die Innenstadt kommen könnten.
Acht Prozent mehr Gäste wurden am Aktionstag „autoarm“ in der Stadt gemessen. Die Befragten begrüßten laut Befragungszettel die Ruhe und bessere Aufenthaltsqualität. Die Frage: Brauchen Sie einen Parkplatz vor der Türe? Beantworteten über 20 Prozent mit nein; auch Nicht-Jülicher, die aber einen Parkplatz am Rande der City wünschten. Die Gäste gaben an, dass sie Konsumlaune mitgebracht hätten und bereit seien, mehr Geld auszugeben. Das seien potentielle Kunden und Konsumenten.
Unterbrochen wurde der Vortrag von Dr. Judith Kurte mehrfach durch Zwischenfragen von Peter Boeken, Betreiber des Asia-Shops und damit Einzelhändler in der Innenstadt. Stellvertretend für die Kaufmannschaft erhob er das Wort, bezweifelte entschieden das Ergebnis, zu dem das KE Konsult gekommen ist und fand nickende Unterstützung in den Reihen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen. „Diese Veranstaltung heute ist eine einzige Frechheit“, schimpfte Boecken, „Die Veranstaltung davor ist ein Jahr her – und auch diese ist jetzt wieder zu kurzfristig. Wir hatten keine Chance irgendeinen positiven Beitrag zu leisten.“
Die guten Ergebnisse aus den Besucherreihen, auch das trug Verkehrswissenschaftlerin Kurte vor, bestätigte das Gewerbe nicht in seinen Rückmeldungen: 72 Prozent meldeten, dass sie weniger Umsätze gemacht hätten als an normalen Wochenende. „Das sind Zahlen, die sind erstmal enttäuschend. Aus Gründen, die noch analysiert werden müssten, ist es nicht geschafft worden, Umsätze zu genieren und die Vorteile zu nutzen“, gab Kurte zu bedenken.
Benjamin Lövenich, Vorsitzender der Werbegemeinschaft, deren Mitglieder überwiegend aus Gastronomie und Einzelhandel zusammensetzen, formulierte die Sorge: „Autoarme Stadt – das können wir von mir aus jedes Jahr machen. Die Frage ist aber doch: Was steht dahinter? Die Angst, die uns umtreibt, ist, dass die Innenstadt dauerhaft autoarm sein soll – dass das der Anfang ist, um eine Verkehrsführung dauerhaft zu ändern.“ Dem widersprach Bürgermeister Axel Fuchs ausdrücklich und betonte: „Wir reden hier heute nur von der Europäischen Mobilitätswoche – und auch morgen.“ Über die Mobilität von morgen könne man keine Aussagen machen, weil viele Parameter fehlten, wie sich die Gesellschaft ändere. „Ob wir das toll finden oder nicht, aber die Zeit der autofreundlichen Städte aus den 60er und 70er Jahren ist vorbei.“ Man würde und werde die Ängste des Gewerbes ernst nehmen. Darum wäre es auch nach dem emotionalen Appell von Bäckermeister Patrick Weitz im vergangenen Jahr zu der Kompromiss-Lösung gekommen. „Wir müssen es besser machen – auch in der überregionalen Vermarktung. Dann haben wir große Chancen, dass wir davon profitieren“, zeigte sich Fuchs überzeugt.
Zweifel äußerte auch Wolfgang Steufmehl (FDP). Die Bedingungen 2020 für die Aktionstage seien perfekt gewesen: Nach der Corona-Pause hätten die Menschen Bedürfnis nach Begegnung gehabt, das Wetter habe mitgespielt und so sei es ein „Stadtfest light“ gewesen. Dem widersprach Expertin Kurte: Durch den Kommunalwahlkampf sei in der vorausgehenden Woche „Kirmes in der Stadt“ gewesen. Claudia Essling, Comtesse Moden formulierte dagegen: „Für die Gewerbetreibenden war es eine Katastrophe.“ Grundsätzlich hätte man in Jülich einen guten Kompromiss aus Fußgängerzonen und befahrbaren Straßenzügen. Auch Antje Müller vom Bekleidungsgeschäft „Friese“ äußerte Zweifel, Sorge und Ängste, dass die Kunden fernbleiben würden, ändere sich die Verkehrssituation. Aber dennoch sagte sie auch: „Ich wollte der Stadt Jülich eine Liebeserklärung machen.“ Als Zugezogene Geschäftsfrau schätze sie und auch die Kunden Jülich als kompakte Stadt der kurzen Wege. Gerade darum „wollen wir verbessern und optimieren.“
Eine emotionale Wortmeldung folgte von Peter Plantikow, Eventcaterer und CDU-Ratsherr. „Es sind Halbwahrheiten und halbe Sachen, die gesagt werden.“ Er kritisierte die Ergebnisse als nicht repräsentativ und, dass nur Positivbeispiele genannt worden seien. Aber ebenso kritisierte Plantikow, dass trotz Angebote seiner Partei zur Zusammenarbeit keine Vorschläge von den Gewerbetreibenden gekommen seien. Ja, die Veranstaltung, sei auch seinem Empfinden nach zu spät terminiert, aber tatsächlich hätte – so seine Meinung – auch eine frühere Information nichts verändert. Fakt sei: „Natürlich verändert sich die Gesellschaft. Das muss jeder Gastronom und Einzelhändler verstehen: Wer stehenbleibt wird überholt.“ und „Der Einzelhandel muss nicht nur mitgenommen werden – er muss auch mitgehen.“ Eine klare Absage erteilte er im Namen seiner Partei, Jülich „autofrei“ zu machen.
Mobilitätsmanagerin Claudia Tonic-Cober warb in ihren Wortmeldungen wiederholt für eine Innenstadt, in der alle Menschen berücksichtigt würden – das Gemeinsame und Verbindende müsse im Vordergrund stehen. Dem schloss sich Martin Schulz, 1. Beigeordneter an, der das Schlusswort führte: „Wir haben etwas gemeinsam – wir wollen in der Stadt und von der Stadt leben. Wir reden nur über die Europäische Mobilitätswoche.“ Über die Zukunft entschieden nicht Einzelne in der Stadt, sondern der Rat. „Darum können wir mutig sein – es muss auf Augenhöhe sein und gemeinschaftlich.“
Zum Beitrag Europäischen Mobiliätswoche 2021
Für Interessierte wird am Montag, 20. September, ab 18 Uhr, eine Podiumsdiskussion in der Kulturmuschel stattfinden. Lokale und externe Akteure werden mit Bürgerinnen und Bürgern zum Thema Mobilitätswende und EMW in den Austausch gehen. Zudem wird Dr. Judith Kurte die Evaluationsergebnisse der autoarmen Zeit während der EMW 2020 noch einmal vorstellen.
Rückblick Europäische Mobilitätswoche 2020
Lesen Sie hierzu Mitmachprojekt in der Innenstadt
Die Mobilitätswende erfahrbar gemacht
„Autofrei“ für die City