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Neujahrsrede: Vom inneren und äußeren Frieden

Auf Einladung des Stadtmarketing e.V. hielt Pfarrer Dr. Udo Lenzig die Neujahrsansprache.

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Pfarrer Udo Lenzig. Foto: Dorothée Schenk
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Jülicherinnen und Jülicher!

Herzlichen Dank, dass ich heute Abend hier zu Ihnen sprechen darf.

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Jül-ich – eine Stadt, die das Pronomen „ich“ in ihrem Namen trägt – für mich eine Ermutigung, vorab kurz von mir zu sprechen bzw. von uns, davon, wie Jülich und ich uns kennen gelernt haben. Ich möchte gerne mit Ihnen teilen, warum ich mich als Pfarrer für Jülich entschieden habe, was mich an dieser Stadt, an dieser Region fasziniert. Und ich möchte Bezüge herstellen zwischen den Herausforderungen in der Vergangenheit und in der Gegenwart unserer Stadt und unseres Landes.

Doch zunächst zu Jülich und mir:
Wir beide haben einiges gemeinsam: Wir sind beide weder besonders groß, noch besonders klein, sondern irgendwo dazwischen – sozusagen „Mittelmaß“, nicht im despektierlichen Sinne, sondern derart, dass wir nicht wie die großen Charismatiker allein durch unsere Aura überzeugen: Man muss sich schon ein wenig mit uns beschäftigen, uns ein wenig näher kennen lernen, um das Besondere an uns zu entdecken. Aber dann kann es passieren, dass Menschen, die eigentlich nur mal kurz vorbeischauen wollten,
ein Leben lang bleiben, weil es sich gut und stimmig anfühlt, weil sie ein Stück Heimat und Geborgenheit gefunden haben –
so wie ich – hier in Jülich!

Und dabei ist der Begriff „Heimat“ gar nicht so weit hergeholt: Denn geboren und aufgewachsen bin ich ganz in der Nähe,
ca. 20 km südlich von Jülich, in Eschweiler, in einem kleinen Dorf mit dem wohlklingenden Namen St. Jöris. Aber diese 20 Kilometer haben es in sich. Denn wenn man aus Eschweiler kommt, dann hat man Jülich kaum auf dem Schirm. Als Eschweiler ist man stolz auf die Nähe zur alten Kaiserstadt Aachen. Der Dialekt und die Liebe zum Karneval verraten die Nähe zur Domstadt Köln.
Und die Eifel liegt als Ausflugsziel quasi vor der Haustüre. Aber Jülich!?

Fuhr man abends über die A 44 nach Hause, dann verrieten einem die blinkenden Sendemasten der Deutschen Welle, dass man bald wieder in Eschweiler war. Aber das war dann auch schon das augenscheinlichste, was man von Eschweiler aus betrachtet mit Jülich in Verbindung brachte … im deutlichen Gegensatz zu der Tatsache, dass die Jülicher zu Recht stolz auf ihre Stadt sind,
deren Anfänge immerhin bis in die Römerzeit zurückreichen und die in der frühen Neuzeit Namensgeber für ein Herzogtum war, das fast die Hälfte unseres heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen umfasste.

Hat sich diese Dialektik von Fremd- und Selbstwahrnehmung seit damals wesentlich verändert?
Falls ja, ist das sicher auch ein Verdienst des Stadtmarketingprozesses, der seit über 25 Jahren mit dazu beiträgt, das Besondere unserer Stadt nach Innen und Außen hervorzuheben: „Historische Festungsstadt – Moderne Forschungsstadt“ – auf diesen Slogan hat man sich zu recht geeinigt, denn Jülich überzeugt einerseits mit seiner Geschichte, mit seiner Kultur, und andererseits mit seinem Forschungszentrum und dem Hochschulcampus. Und natürlich als die Stadt, die 1998 die Landesgartenschau ausrichten konnte und heute mit dem Brückenkopf-Park und seinem reichhaltigen Freizeit-, Kultur- und Animationsprogramm Besucherscharen von nah und fern anzieht.

Udo Lenzig
Foto: Dieter Benner

Bleibt die Frage: Was hat mich nach Jülich gezogen?
Die Antwort klingt denkbar banal: Mein Onkel bzw. die Deutsche Bundespost. Und das kam so: In den 80er Jahren wohnte ein Onkel von mir hier in Jülich, in der Römerstraße. Und immer, wenn es neue Telefonbücher gab [den meisten von uns dürften diese dicken gelben Bücher noch vertraut sein], überließ mein Onkel meinen Eltern ein Jülicher Altexemplar – denn natürlich war Jülich nicht im Telefonbuch der Region Aachen enthalten. Das sollte weitreichende Folgen für mich haben. Denn als Student der Evangelischen Theologie war ich gehalten, ein Praktikum in einer Kirchengemeinde zu absolvieren, die möglichst nicht in der Heimatregion liegen sollte.

Und da Jülich, wie eben erwähnt, gefühlt „Lichtjahre“ von Eschweiler entfernt lag, meine Eltern aber durch meinen Onkel über ein Jülicher Telefonbuch verfügten (das Internet gab es damals noch nicht), rief ich kurzerhand einen mir bis dahin unbekannten Jülicher Pfarrers an; stellte mich kur vor und fragte, ob ich in der Kirchengemeinde Jülich ein Praktikum absolvieren könnte? Ich konnte – und so kam es zu einer ersten tieferen Begegnung zwischen mir und Jülich.
Es fühlte sich gut an, sehr gut sogar, so dass ich nach Beendigung des Praktikums den Wunsch hatte, nach dem Examen auch das zweijährige Vikariat hier in Jülich verbringen zu dürfen: Ich durfte – und so wurde ich Jülicher!

Während meiner Vikariatszeit fragte das Mädchengymnasium in der Evangelischen Kirchengemeinde an, ob einer der Theologen bereit wäre, in der Oberstufe Evangelische Religionslehre zu erteilen. Meine beiden Mentoren, Reinhard Gorski und Thomas Kreßner, dachten sofort an mich, weil sie wussten, dass ich Freude am Unterrichten hatte – und so kam ich als junger evangelischer Theologe an das erzkatholische MGJ, nicht ahnend, dass ich dieser Schule 22 Jahre lang die Treue halten würde, bis ich vor neun Jahren zurück in die Kirchengemeinde wechselte. Und obwohl mich die Arbeit an der Schule sehr erfüllt hat, habe ich den Wechsel noch keinen Tag bereut: Für mich ist es gleichermaßen befriedigend und herausfordernd, in unserer altehrwürdigen Stadt als evangelischer Gemeindepfarrer zu wirken.

Evangelische Christen gibt es in Jülich seit Beginn Ende des 16. Jahrhunderts. Denn die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg verzichteten darauf, das Rechtsprinzip des Augsburger Religionsfriedens, wonach der Landesherr die Religion seiner Untertanen bestimmte, anzuwenden: Der innere Friede war den humanistisch gesinnten jülicher Herzögen in ihrem Territorium wichtiger als konfessionelle Einheitlichkeit. Die religiösen Gruppen, die daraufhin in Jülich zusammenlebten, waren – die römisch-katholischen Christen (ca. 85 Prozent der Stadtbevölkerung),
– die reformierten und lutherischen Christen (ca. 10 Prozent der Stadtbevölkerung)
– und die Juden (weniger als 5 Prozent der Stadtbevölkerung).
Trotz dieser religiösen Vielfalt verlief das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger in Jülich, oberflächlich betrachtet, unproblematisch.

Selbst im Stadtrat waren Angehörige aller Konfessionen vertreten. Blickt man jedoch näher hin, muss man leider feststellen, dass der Kitt der gegenseitigen Toleranz in der Bevölkerung recht dünn war. Vor allem die ländliche Bevölkerung in den katholisch geprägten Dörfern rund um Jülich tat sich schwer mit den sog. Andersgläubigen und suchte Abstand zu diesen „Fremden“ bzw. drängte sie, wo Abstand nicht möglich war, öfters zur Konversion. Mischehen zwischen Katholiken und Protestanten waren auf beiden Seiten verpönt. Vor allem aber wurden die Mitglieder der jüdischen Gemeinde immer wieder Opfer tief sitzender und nachhaltig geschürter Vorurteile, deren trauriger Höhepunkt die Schändung der Jülicher Synagoge am 9. November 1938 war. Im Krieg wurde die Synagoge dann völlig zerstört … und in der Folgezeit aus traurig bekannten Gründen nicht nur nicht wieder aufgebaut, sondern der Ort, wo sie gestanden hatte, geriet völlig in Vergessenheit.

Das änderte sich erste, als Hilda Swalve und einige Gleichgesinnte Anfang der 80er Jahre den Plan umsetzten, mit einer Gedenktafel an die Synagoge zu erinnern. Die Tafel wurde 1983 an dem Ort der früheren Synagoge in der ehemaligen Grünstraße angebracht. Heute erinnern zusätzlich der in „An der Synagoge“ geänderte Straßennamen und das Mahnmal auf dem Propst-Bechte-Platz daran, dass in Jülich über viele Jahrhunderte hinweg jüdisches Leben selbstverständlich zum Stadtbild dazu gehörte. Alljährlich findet im November unter großer Beteiligung der jülicher Öffentlichkeit eine Veranstaltung statt, in der der menschenverachtenden Schändung der Synagoge gedacht wird,
die das Grauen des sog. Holocaust ankündigte und vorwegnahm.

Udo Lenzig
Foto: Dieter Benner

„Holocaust“ – das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet völlig verbrannt.
Es ist jetzt drei Monate her, dass in Israel, dem Land,
in dem Juden sicher vor Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung leben möchten, wieder Häuser und Menschen völlig verbrannt wurden. Aber diesmal treffen die Mörder auf eine wehrhafte Bevölkerung … – und Deutschland steht aus nachvollziehbaren Gründen solidarisch an der Seite Israels – auch wenn uns das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ebenso berührt wie das Leid jedes Israeliten, jedes Ukrainers, jedes Russen, jedes Opfers in den Gefangenenlagern und Folterstätten unserer Welt, wo Menschen – immer noch und immer wieder – aufgrund ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihres Rechts auf Selbstbestimmung an Leib und Seele verstümmelt werden. Es ist kaum auszuhalten:
Im 21. Jahrhundert, einer Zeit, in der die Welt vor enormen globalen Herausfor-derungen steht, erleben wir immer noch Nationalismus, Imperialismus, Fanatismus, religiöse Intoleranz und Barbarei, obwohl jeder aus der Geschichte ersehen kann,
wohin solche inhumanen Haltungen führen.

Was sagt das über den Menschen aus, der sich gerne als Krone der Schöpfung wähnt? Denken wir nur an unseren europäischen Kulturkreis, dann haben wir mit dem Erbe der römisch-griechischen Philosophie, dem Christentum und dem Humanismus eigentlich drei gut gerüstete Bollwerke gegen jede Form von Gewalt und Fanatismus, die aber leider alle drei in der Praxis immer wieder auch versagt haben: Als Pfarrer ist es naheliegend, dass ich das Christentum besonders in den Blick nehme, das unsere europäische Kultur seit dem 4. Jahrhundert nach Christus maßgeblich prägt: Ungefähr genau so lange feiert die Christenheit die Geburt Jesu, Weihnachten: Aber weder die Botschaft des Engels über den Feldern von Bethlehem, der den Menschen zuruft Frieden auf Erden, noch der leidenschaftliche Appell Jesu von Nazareth, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten, sondern sogar den Feind zu lieben haben es vermocht, aus dem christlichen Europa einen friedlichen Kontinent zu machen. Im Gegenteil: Als das Christentum im vierten Jahrhundert eine Liaison mit der weltlichen Macht eingeht, dauert es nicht lange, bis Kirchenväter und Theologen beginnen, in klarem Widerspruch zu den eindeutigen Worten des Bergpredigers, Krieg, Folter und Gewalt von Seiten des Staates und der Kirche aus zu rechtfertigen. Kein geringerer als der Hl. Augustinus erfindet die Lehre vom sog. Gerechten Krieg.

Blicken wir daraufhin auf die zahlreichen Kriege in unserem christlichen Kulturraum,
etwa auf die Kreuzzüge gegen die Ketzer und Moslems im hohen Mittelalter,
auf den 100jährigen Krieg zwischen Frankreich und England im späten Mittelalter,
auf den 30jährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert,
auf den 7jährigen Krieg zwischen den europäischen Großmächten im 18. Jahrh.,
auf den amerikanischen Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert
auf die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert,
oder, traurig zu sagen, auf die gegenwärtigen Kriege im noch jungen 21. Jahrhundert, dann fällt es schwer, auch nur einen dieser Kriege „gerecht“ zu nennen.

Aber wir scheitern in der Regel nicht erst am Gebot der Feindesliebe, sondern meistens fällt es uns schon schwer genug, unseren Nächsten zu lieben

– für Jesus, neben der Gottesliebe, das wichtigste Gebot: Konfrontiert mit der Frage, wer das denn eigentlich ist, mein Nächster, antwortet er mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Sie kennen es alle: Ein Reisender wird von Räubern überfallen. Zwei Landsleute, ein Priester und ein Levit, gehen an ihm vorüber, ohne zu helfen. Ein Fremder, ein Samariter, sieht den Verletzen, hält an, verbindet seine Wunden und bezahlt für ihn eine Unterkunft, damit er sich von dem Überfall erholen kann. Anschließend fragt Jesus seinen Gesprächspartner: Was meinst du, wer von den dreien ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Und als der Mann zutreffend antwortet: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat“ spricht Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen.

Das, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ist für mich als Theologen die eigentliche Herausforderung: Eigentlich sind Jesu Worte klar und deutlich: Geh hin und tu desgleichen. Oder, die sog. Goldene Regel: Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut auch ihnen! Wenn man jedoch versucht, das umzusetzen, wenn man im Namen Jesu Krieg und Gewalt ächtet und sich für Frieden einsetzt, wie das seit Beginn des Ukraine-Krieges der bekannte katholische Theologe Eugen Drewermann tut, dann muss man mit dem Vorwurf leben, naiv und weltfremd zu sein und dem politischen Gegner in die Hände zu spielen. „Mit der Bergpredigt lässt sich nun mal keine Politik machen“ – so die Überzeugung des ehemalige Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Hat er recht? Und wenn ja, was ist dann die Alternative? Sind es nicht die zahlreichen Kriege, von denen ich eben einige aufgezählt habe? Was sagt das über den Menschen aus, der sich gerne als Krone der Schöpfung wähnt?

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!
Auch 2024 werden wieder zahlreiche Menschen ihre Heimat aufgrund von Krieg, Gewalt und Armut schweren Herzens verlassen und versuchen, hier bei uns ein gesichertes Leben zu finden. Der Weg nach Europa ist für viele Flüchtende oft ein Alptraum: Männer, Frauen und Kinder ertrinken vor unseren Augen. Aber konkrete Nächstenliebe so dicht vor der eigenen Haustüre? Das fordert uns heraus bzw. das überfordert uns, dagegen formiert sich Widerstand. Auch das leider kein neues Phänomen. Vor 80 Jahre flohen ebenfalls unter erheblichen Opfern Hunderttausende aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, um der Rache der roten Armee zu entgehen. Meine Großmutter war unter diesen Flüchtlingen, gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn, meinem Vater. Wie sie waren die meisten Flüchtlinge aus dem Osten Protestanten – und hier im katholischen Rheinland sehr unwillkommen. Zahlreiche ältere Mitglieder unserer Kirchengemeinde sind damals auf diese Weise nach Jülich gekommen – und es ist für mich immer wieder erschütternd zu hören, wie sehr sie anfangs hier in Jülich ausgegrenzt und verspottet worden sind. „Willkommenskultur“ war offenbar schon immer eine besondere Herausforderung!, Und doch, mit der Zeit haben die Menschen zusammen gefunden: „Unter Tage“, in Emil Mayrisch und anderswo, war es den Männern bald egal, ob der Kumpel neben mir katholisch oder evangelisch ist, Und nicht nur dort, sondern auch am Stammtisch, auch im Schrebergarten.

Udo Lenzig
Foto: Dieter Benner

So wurde auch hier in Jülich aus dem anfänglichen Nebeneinander von Katholiken und Protestanten immer mehr ein Miteinander. Und als Anfang der 60er Jahre eine zweite Welle Protestanten nach Jülich zog, um an der Kernforschungsanlage als Physiker oder Ingenieur zu arbeiten, da spielte die Konfession schon fast keine Rolle mehr. Heute spielt die konfessionelle Zugehörigkeit im Zusammenleben unserer Stadt gar keine Rolle mehr. Viele Kinder und Jugendliche wissen heute oft gar nicht mehr, ob sie evangelisch, katholisch oder konfessionslos sind, doch tue ich mich verständlicherweise schwer, diese Unkenntnis in Sachen Religionszugehörigkeit als Fortschritt anzusehen.

Ein Fortschritt ist es aber auf jeden Fall, dass die ökumenische Zusammenarbeit der christlichen Kirchen in Jülich seit Jahrzehnten auf einem soliden Fundament steht: Rein äußerlich ist das an den zahlreichen gemeinsamen caritativen Einrichtungen zu erkennen, wie dem Cafe Gemeinsam, dem Christlichen Sozialwerk oder der Initiative Heiligabend für Alleinstehende. Inhaltlich spricht dafür die Vielzahl ökumenischer Gottesdienste, etwa zu Christi-Himmelfahrt im Brückenkopf-Park Jülich, zum Stadtfest auf dem Jülicher Marktplatz, zur Woche der Gemeinschaft der Christen in diesen Tagen und die ökumenischen Taize-Gottesdienste im März und im November. Darüber hinaus finden die Gedenkfeiern am Volkstrauertag auf dem Ehrenfriedhof und für die ehemalige Synagoge, von der eben bereits kurz die Rede war, selbstverständlich auch ökumenisch statt. Dazu alle Schulgottesdienste …

Doch gerade die Schulgottesdienste stellen uns heute vor eine neue Herausforderung. Denn mittlerweile ist auch in Jülich ein Großteil der Schülerinnen und Schüler islamischen Glaubens bzw. konfessionslos. Das verpflichtet uns zu der Frage: Wie können Schulfeiern so organisiert werden, dass sich alle eingeladen fühlen? Ein wichtiges Thema, an dessen Lösung die Politik, die Schulen, die Kirchen, vor allem aber auch die Betroffenen selber beitragen müssen.

An dieser Stelle erinnere ich gerne noch einmal an die humanistische Tradition der Jülicher Herzöge, allen voran Wilhelm V., der bereits im 16. Jahrhundert für eine tolerante, gemischt-konfesionelle Kultur in seinem Territorium eintrat. Dahinter sollten wir heute, 500 Jahre später, nicht zurückfallen, sondern den humanistischen Gedanken der Toleranz und der Akzeptanz ohne Unterschied auf alle gesellschaftlichen Gruppen anwenden und die Menschen allein nach dem Maßstab beurteilen,
ob sie die Grundrechte unserer Demokratie, wie sie in Artikel 1- 19 unseres Grundgesetzes Ausdruck finden, achten und befolgen – denn auch dahinter sollten wir nicht zurückfallen!

Nach wie vor ist Bildung, wo nicht eine Voraussetzung, so doch sehr hilfreich und nützlich, um eine Haltung der Toleranz gegenüber allem Neuen und Fremden auszubilden.

Nicht nur deshalb müssen uns die Ergebnisse der jüngsten PISA-Studie beunruhigen: Eine Jugend, die sich des Lesens immer mehr entwöhnt, die das Rechnen dem Computer überlässt, die über soziale Medien kommuniziert, die im Internet recherchiert und Texte zunehmend von ChatGPT verfassen lässt – wie sehr das alles unsere Bildungslandschaft, unsere Kultur, unsere Gesellschaft – ja, nicht zuletzt unser Menschsein verändern wird, das scheint mir eine der zentralen Fragen unseres noch jungen Jahrhunderts zu sein: Fluch oder Segen? Vermutlich Fluch und Segen!

Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, ich komme zum letzten Teil meiner Rede:
Ihnen wurde in diesem Jahr für die Neujahrsansprache ein Theologe zugemutet – der selber nicht wenig überrascht war, als ihn die Anfrage erreichte: Warum gerade ich? Ihr Vorsitzender beantwortete die Frage mit dem Verweis auf die herausfordernden Zeiten, in denen wir gegenwärtig Leben, mit der Suche nach Orientierung. Sie werden verstehen, dass ich hierzu maximal Anstöße geben kann; das Finden muss jeder für sich selber leisten! Als Theologe und Christ kann ich zu Ihnen zwar von der Hoffnung sprechen, die mich trägt, von den Geboten, die mir Orientierung geben, und von der Vergebung, die mir auch im Scheitern immer wieder die Kraft schenkt, aufzustehen und neu zu beginnen. Aber angesichts der Tatsache, dass nur noch ca. 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land – und sicher auch hier in Jülich – Mitglied einer christlichen Kirche sind – Tendenz weiter abnehmend (!) – sollte der Kompass der Orientierung sich nicht an theologischen Normen ausrichten. Denn diese würden zu viele Bürgerinnen und Bürger außen vor lassen. Lieber würde ich auf das universale Prinzip der kritischen Vernunft setzen, das Immanuel Kant in das Zentrum seiner Philosophie gerückt hat. Aber auch die selbstverpflichtende Ethik des Kategorischen Imperativs versagt leider allzu oft als handlungsleitendes Prinzip, wie besonders wir Deutschen aus bitterer Erfahrung wissen.
Sollte also am Ende der Pessimist Arthur Schopenhauer recht behalten, der im Unterschied zu Kant nicht in der Vernunft, sondern im Willen das Prinzip erkennt, das unser Tun und Lassen bestimmt – der Wille, der nur sich selbst, sein eigenes Fortkommen, sein Überleben im Blick hat – zumeist auf Kosten der Anderen. Wenn Schopenhauer damit recht hat … was sagt das dann über den Menschen aus, der sich gerne als Krone der Schöpfung wähnt?

Nein, bei allem Respekt vor der Philosophie Schopenhauers möchte ich heute Abend nicht dem Pessimismus das letzte Wort überlassen. Denn trotz aller Krisen und Probleme, die uns gegenwärtig herausfordern, sollten wir uns auch vor Augen halten:

Niemals ging es uns – gesamtgesellschaftlich betrachtet – besser als heute!

Wer das bezweifelt, der möge einmal für sich überlegen, in welchem Jahrhundert er denn lieber leben würde, arbeiten würde, krank sein würde, bedürftig sein würde – als heute? Niemals ging es uns besser!

Aus diesem Satz schöpfe ich Hoffnung: Denn wenn das so ist, dann müssen die Krisen und Probleme, die uns heute herausfordern, mit unserem Reichtum und Wohlstand in Verbindung stehen … und eine Krise, bedingt durch Reichtum und Wohlstand, lässt sich leichter bewältigen als eine Krise bedingt durch Armut und Verzweiflung – […] wenn wir nur bereit sind, umzudenken und über unseren Tellerrand zu blicken, wenn wir bereit sind, besonnen und verantwortlich zu handeln und wenn wir bereit sind, in Maßen auch Verzicht zu üben. Denn ein „Weiter so wie bisher“ – das bekäme uns allen nicht gut!

Jülich als historische Festungsstadt mag uns, bei aller Liebe zur Geschichte, auch daran erinnern, dass die Menschen hier in Jülich niemals so frei, so sicher und so reich waren wie gegenwärtig: schließlich gab es gewichtige Gründe, die Stadt Jülich in eine Festungsstadt umzuwandeln.

Jülich als moderne Forschungsstadt Jülich stellt ihr Wissen in den Dienst des Fortschritts, entwickelt neue Technologien, erschließt umweltfreundliche Energiequellen und leistet auf diese Weise einen Beitrag zu dem, was wir theologisch gerne als „Bewahrung der Schöpfung“ beschreiben.

Und am Ende haben vielleicht sogar die Krisen, die wir gegenwärtig nicht abwenden können, noch etwas Positives: Ein Beispiel: Ich bin überzeugt, dass die Erfahrung des Hochwassers vor zweieinhalb Jahren in unserer Region, wie gegenwärtig in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, mehr zum ökologischen Bewusstsein der Bevölkerung beigetragen hat als viele Reden von Fachleuten und Politikern.

Und noch etwas: Gerade in der Krise wächst der Mensch über sich hinaus – oder, wenn man so formulieren darf: Wird er zum Menschen! Selten habe ich ein solches Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft erlebt, hier in Jülich, in meiner Heimatstadt Eschweiler, im Ahrtal und anderswo, wie in den Zeiten, in denen von Katastrophen heimgesuchte Bürgerinnen und Bürger auf Hilfe angewiesen waren. Erinnern sie sich: Landwirte mit schwerem Gerät, Busse mit ehrenamtlichen Helfern sind ins Ahrtal gefahren … Was sagt das über den Menschen aus, der sich gerne als Krone der Schöpfung wähnt?

Er ist es – bzw. er hat das Zeug dazu. Denn er hat die Fähigkeit, mitzufühlen, mitzuhelfen, solidarisch zu sein, kurz:  Verantwortung zu übernehmen – für sich, für seinen Nachbarn, für seinen nahen und fernen Nächsten – und sogar für die kommende Generation, damit diese nicht das Gefühl haben muss, „die Letzte“ zu sein.

Solange wir das nicht verlieren, verbunden mit einer Prise Heiterkeit, gibt es Grund zur Hoffnung – ganz im Sinn von Martin Luther, der einmal gesagt haben soll:
Und wüsste ich, dass morgen die Welt untergeht,
so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!

Lassen Sie uns gemeinsam dieses „Apfelbäumchen“ pflanzen. Hierzu kann jeder einzelne von uns seinen Beitrag leisten,
in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Freizeit – in und für unsere Stadt Jülich.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien ein gesundes, glückliches und erfolgreiches Jahr 2024.


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