Großvater Erich, Großmutter Mathilde, Mama Claudia, Papa Bernd sowie der kleine Timi und seine noch kleinere Schwester Celina – alle saßen sie versammelt um den kleinen Esstisch in der Küche und warteten, denn es war Weihnachtsabend. Die Messe hatten die Franzens bereits besucht. Dem kleinen Timi und der noch kleineren Celina kam die Zeit in der Kirche immer wie eine halbe Ewigkeit vor – und kalt war es dort auch noch. Aber Großmutter Mathilde und Mama Claudia meinten immer, das müsse so sein, sonst wäre es kein richtiges Weihnachtsfest. Papa Bernd nahm es wie ein Mann, gedachte in der Kirche der Weihnachtsfeste seiner Kindheit und machte sich warme Gedanken. Großvater Erich hingegen, der in diesem Jahr sein fünfundsiebzigstes Weihnachtsfest beging, also ein Jubiläum feiern konnte, behalf sich mit ein paar kräftigen Schlucken aus seinem Flachmann, den er vorher mit Weinbrand befüllt hatte. Auch nahm er eine gehörige Prise aus seiner Schnupftabaksdose und verfiel in der Kirchenbank in einen angenehmen Dämmerschlaf. Dabei dachte er an Friedrich den Großen, dem seine Schnupftabaksdose einmal in einer Schlacht gegen die Österreicher das Leben gerettet hatte. Auch seine Schnupftabaksdose hatte ihm im Leben schon oft aus der Klemme geholfen. Zwar nicht in der Schlacht, jedoch jedes Mal, wenn er sich in einer Situation befand, in der man nur abwarten konnte: Am Postschalter, in der Bahn, wenn es um Politik ging und eben am Weihnachtsabend in der Kirche. Großmutter Mathilde sah dies nicht gern, aber am fünfundfünfzigsten gemeinsamen Weihnachtsfest – so lange kannten sie sich schon, sah sie über die Schnupftabaksdose und den Flachmann mit dem Weinbrand hinweg.
Bei Familie Franzen wichtelte man. Das bedeutet, dass jeder ein paar kleine Geschenke kaufte, von denen er glaubte, sie könnten den anderen Familienmitgliedern gefallen. Das Christkind, das jedes Jahr am Weihnachtsabend nach der Messe und nach dem gemeinsamem Essen eintraf, würde dann schon wissen, wem es welches Geschenk überbringen würde. Großvater Erich hatte zu diesem Zweck ein paar bunt verpackte Schachteln mit feinem Schnupftabak besorgt und in den großen Jutesack zu den anderen Geschenken gesteckt.
Das Christkind hatte beim Verteilen der Geschenke noch nie einen Fehler gemacht. Trotzdem bekam es immer tatkräftige Unterstützung von Großmutter Mathilde und Mama Claudia.
Der kleine Timi hatte im letzten Jahr ein rotes Fahrrad bekommen, die ganz kleine Celina wurde mit einer sprechenden Puppe beschenkt, für Papa Bernd gab es ein exquisites Herrenparfum, und für Großvater Erich lagen sechs Schachteln mit feinstem Schnupftabak unter dem Tannenbaum sowie ein Nachschlagewerk über Friedrich, den alten Preußenkönig. Für Mama Claudia hatte Papa Bernd – pardon – das Christkind einen Gutschein aus dem Reisebüro mitgebracht. Großmutter Mathilde hielt nicht viel von gekauften Geschenken. Auch wenn das Christkind jene persönlich besorgt hatte – dies beteuerte Großmutter Mathilde den beiden Kindern gegenüber immer fleißig. Aus diesem Grund steuerte sie selbstgestrickte Pullover für alle Familienmitglieder bei. Selbst bekam sie im letzten Jahr ein paar selbstgebastelte Strohsterne sowie eine feinpolierte Schnupftabaksdose aus glänzendem Nickel. Vielleicht machte das Christkind ab und an doch mal einen kleinen Fehler. Aber das sei ja nicht so schlimm, hatte Großvater Erich das Christkind in Schutz genommen.
So war es im letzten Jahr und so ähnlich war es in all den Jahren zuvor – bis jetzt.
Die Franzens hatten also schon die Kirche besucht und saßen nun plangemäß in der Küche und wartete, wie in jedem Jahr darauf, dass Großmutter Mathilde und Mama Claudia sie alle ins Wohnzimmer rufen würden, nachdem sie zusammen mit dem Christkind alle Geschenke richtig verteilt hätten.
Dass Großvater Erichs Flachmann mittlerweile leer war und auch sein Vorrat an feinem Schnupftabak sich dem Ende näherte, störte ihn wenig, denn die Bescherung musste jeden Moment beginnen – ja, jeden Moment.
Papa Bernd hatte, bevor es endlich zur Bescherung kam, noch ein kleines Anliegen und forderte die Kinder gutmütig dazu auf, das Geschenkpapier nach dem Auspacken der Weihnachtsgeschenke nicht wie im letzten Jahr im Garten zu verstreuen. Timi, der im letzten Jahr ein rotes Fahrrad bekam, hatte es sofort im Garten ausprobieren müssen. Und Papa Bernd hatte anschließend eine halbe Stunde damit zugebracht, das bunte Geschenkpapier, die goldenen Bänder und Kärtchen und Glöckchen wieder einzusammeln. Dabei hatte er sich eine kräftige Erkältung zugezogen und die Zeit bis Silvester im Bett verbracht. Er hatte da so eine Vorahnung, dass das Christkind den Kindern heute Abend einen neuen Schlitten mitbringen würde. Und den müsse man auch sofort draußen einmal ausprobieren. Auf den Schutz der Umwelt zu achten, war ihm sehr wichtig. Jeden Moment musste die Bescherung beginnen – jeden Moment.
Großvater Erich, der zu seiner Freude noch eine Flasche Kräuterlikör im Küchenschrank gefunden hatte, eröffnete, dass heutzutage viel zu viel Aufhebens um den sogenannten Umweltschutz gemacht würde. Selbst die Müllsäcke würden heute schon aus Jute hergestellt. Und das sei nun wirklich übertrieben. Papa Bernd aber war sich sicher, dass die Mülltüten eben Mülltüten waren und aus Plastik gefertigt würden. Eine Mülltüte aus Jute habe er noch nie gesehen. Aber Großvater Erich versicherte, er habe heute Morgen noch, kurz bevor die Männer von der Müllabfuhr gekommen wären, einen großen, schweren Sack aus Jute vor die Türe gestellt, und die Männer von der Müllabfuhr hätten den Sack auf den Müllwagen geladen und gleich mitgenommen.
Papa Bernd wurde blass und musste schlucken. Darüber hinaus hatte Großvater Erich den Männern von der Müllabfuhr ein frohes Weihnachtsfest gewünscht und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Kreidebleich stand Papa Bernd auf und wollte gerade ins Wohnzimmer eilen, als ihm Großmutter Mathilde und Mama Claudia mit sorgenvoll zerknitterten Gesichtern entgegen kamen. Timi und Celina verstanden sofort, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Das Christkind sei, so stammelte Großmutter Mathilde, auf dem Weg vom Himmel hinab zur Erde, in einen schweren Schneesturm geraten. Dabei warf sie dem Großvater Erich, der sich noch ein Glas Kräuterschnaps genehmigt hatte, einen strafenden Blick zu. Fast, so fuhr Mama Claudia, die nicht minder betroffen aussah, fort. Ja, fast wäre das Christkind verschollen. Erst im letzten Moment, erzählte wieder Großmutter Mathilde weiter, habe sich das Christkind retten können. Aber den großen Jutesack mit den Geschenken, Großmutter Mathilde sah dabei wieder ihren Gatten an, den großen Jutesack mit den Geschenken, den habe das Christkind in dem Schneesturm verloren. Den Kindern, die beide erschreckt ihre Äuglein aufrissen, war in diesem Moment gar nicht mehr nach Geschenken zumute. Ob denn das Christkind verletzt sei, wollte die kleine Celina wissen. Ob denn das Christkind sich erkältet habe und jetzt Medizin brauche, fragte der kleine Timi ganz aufgeregt. Nein, dem Christkind ginge es gut, versicherte man den Kindern eifrig. Gegen die Kälte helfe ein ordentlicher Grog am besten, meinte Großvater Erich, der nicht ganz im Bilde war und böse Blicke erntete. Außerdem habe das Christkind für jedes Familienmitglied einen warmen selbstgestrickten Pullover mitgebracht. Die Pullover wären nicht in dem Jutesack gewesen, der in dem Schneesturm verschollen war.
Als Papa Bernd, Mama Claudia und Großmutter Mathilde sahen, wie glücklich und erleichtert die Kinder waren, dass dem Christkind nichts geschehen sei, da machten alle ein fröhliches Gesicht. Die Franzens zündeten Kerzen an und versammelten sich unter dem buntgeschmückten Weihnachtsbaum und erlebten eines der schönsten Weihnachtsfeste. Und warme Wollpullover könne man bei einem Schneesturm am besten brauchen, strahlte die kleine Celina. Sie hatte gerade ein Stück von dem wunderbaren Pflaumenkuchen gegessen, den Großmutter Mathilde am Nachmittag gebacken hatte. Einzig Großvater Erich zeigte sich etwas betrübt über den Verlust von 6 Schachteln mit feinstem Schnupftabak sowie einer Gedenkmünze mit dem Abbild Friedrichs des Großen darauf. Aber er beschwerte sich nicht, sondern erinnerte Großmutter Mathilde daran, dass selbstgestrickte Pullover viel schönere Weihnachtsgaben wären, als gekaufte Geschenke.
Worauf Großmutter Mathilde ein Weihnachtslied anstimmte und sich danach einen kräftigen Schluck aus Großvater Erichs Kräuterlikörflasche genehmigte.