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Vom Abschied nehmen und vom in die weite Welt ziehen, um sein Glück zu finden...

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Postkarten nach Jülich © SchadowSky
Postkarten nach Jülich © SchadowSky
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Kurz hinter Garmisch gibt es eine kleine Privatstraße. Sie führt unter anderem zur Luxusherberge, die Präsident Obama und die anderen G7 Staatsoberhäupter beim letzten politglobalen Gipfeltreffen in Deutschland aufnahm: Schloss Elmau. Diese Straße mit Blick auf das Karwendelgebirge und majestätische Hochwälder ist nicht einfach so befahrbar. Es befindet sich hier ein kleines Mauthäuschen, besetzt mit einem urbayerischen Wurzelsepp, der 2 Euro Gebühr kassiert, dann die Schranke hebt und jedes passierende Fahrzeug mit einem freistaatlichen „pfiat di“(Einzelperson) oder „pfiat eich“ (Personengruppe) verabschiedet. Erklingt ein „pfiat enk“, ist das die duale Version der bayerischen Verabschiedung für ein Personenpaar. Mit dem für uns ungewöhnlich klingenden Gruß ist „Behüte Dich Gott“ oder „Behüte Euch Gott“ gemeint. Ein freundlicher Segen für die Weiterreise.

Egal, welches Wort wir Menschen zur Verabschiedung nehmen, es ist Symbol und Höflichkeitselement einer endenden Begegnung, vielleicht sogar Beziehung oder eines Gesprächs. Vor kurzem wurde ich ertappt, wie ich einen ungebetenen Telefonwerber verabschiedete. Der Anruf erreichte mich auf einer längeren Autofahrt (nicht auf der Mautstraße – aber es ging mal wieder in diese Richtung). Auf meinem Display sah ich eine 0800er Nummer und nahm den Anruf trotzdem entgegen. Schön blöd. „Guten Tag hier ist XYZ (Unternehmensname), spreche ich mit Frank Lafos?“ Meine, im Nachhinein beurteilt, ziemlich bescheuerte Antwort war „Guten Tag, ich habe Ihren Anruf nicht gewünscht und möchte nicht mit Ihnen sprechen – AUF WIEDERHÖREN!“ Okay, mein mir familiär nahestehender Beifahrer, mit dem ich ab und zu auch Spiegeleier verspeise, beugte sich grinsend vor und meinte nur trocken „Na der hat aber jetzt seinen Spaß – AUF WIEDERHÖREN!!!“. Das Gefühl, sich selbst bei einer verbalen Dummheit erwischt zu haben, kennt jeder, der ehrlich zu sich ist. Mehr dazu zu schreiben erspare ich mir. Schwamm drüber und einem Call-Center Mitarbeiter mal auf eine andere Art und Weise eine Freude bereitet. Jeden Tag eine gute Tat.
Dabei ist Freude beim Verabschieden und der daraus folgenden Trennung nicht die Regel und wenn, dann bestimmt häufiger einseitig. Die meisten Menschen sind gemeinhin beziehungsfähige Wesen. Lösen sich für uns wichtige Beziehungen auf, spüren wir Abschied und nennen es auch so.
Doch Abschied ist auch gleichzeitig Wiedersehen, das vergessen wir oft. Packt jemand sein Bündel und geht auf eine Reise, so ist das Ziel seiner Reise, am Ende wieder an den Ausgangspunkt zurück zu kommen. Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein…. Urlaubsreisen, Studienfahrten oder Dienstreisen laufen so ab. Der Seemann hat seinen Heimathafen, in den er nach seiner großen Fahrt zurückkehren wird. Zieht jemand jedoch endgültig in die weite Welt, um sein Glück zu finden, nimmt er den Abschied für immer in Kauf – wie beispielsweise mein Freund Kalle.

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Wir machten Anfang der 80er Jahre gemeinsam unsere Lehre als Zentralheizungs- und Lüftungsbauer. Kalle war ein hervorragender Handwerker und absolvierte die praktischen Prüfungen mit Leichtigkeit. Die Theorie hasste er und es war zum Ende der Ausbildung fast klar, dass er durch die Gesellenprüfung durchfallen würde. Unser damaliger Berufschullehrer sah das vermeidbare Unheil weise voraus und acht Wochen vor dem Theorietermin lud er Kalle und mich mittags in die der Berufschule benachbarten Pommesbude ein und hielt Kalle eine wohl gemeinte Predigt. Er war übrigens Diakon, kannte sich mit Predigten also aus und hatte mich vorher gefragt, ob ich bereit wäre, mit Kalle gemeinsam zu pauken, was ich bejahte. Nächstenliebe, Kumpel sein. Kurzum, Kalle war willig und zeigte dies, bekam seinen Gesellenbrief und machte von da an sein Ding. Drei Monate Zuckerfabrik in der Kampagne. Mit dem verdienten Geld nach Israel in einen Kibbuz. Mit dem dort verdienten Geld nach Indonesien und dann weiter nach Australien. Kalle hatte mir vor seiner Abreise versprochen, dass wir in Kontakt bleiben. Für alle unter 30-Jährigen: Zu der Zeit gab es weder Smartphones, Skype, Snapchat oder Facebook, geschweige denn Internet oder Tablets, iPads bzw. Notebooks. Damals telefonierte man noch mit Apparaten, an denen der Hörer mit einem Kabel angeschlossen war und das kleinste Telefon Ausmaße eines Ein-Liter-Tetrapaks hatte. Ohne Amoled-Display diente ein Tastenfeld zur Wahl, manchmal sogar hängend an der Wand festgeschraubt. Telefonieren im Stehen, ab 1,50 Meter Armreichweite – nix für Kinder. Öffentlich telefonierte man aus Telefonzellen. Die sahen ungefähr aus wie Duschkabinen, die einzeln auf dem Bürgersteig standen oder in langen Reihen in Postämtern oder auf Bahnhöfen aufgebaut waren. Heute sind die manchmal als „offener Bücherschrank“ bekannt. Auf dem Kirchplatz steht noch ein Exemplar. Wenn es schriftlich schnell gehen musste und anrufen nicht ging, schickte man ein Telegramm oder sogar ein „Schmucktelegramm“ zur Geburt oder Heirat gratulierend. Geschäftlich nahm man den Fernschreiber mit Lochstreifen, später das Telefax. Alles andere wurde über Distanz per Post mit Brief oder Postkarte kommuniziert.

Und so bekam ich von Kalle alle paar Monate eine bunte Ansichtspostkarte, wobei dann die letzte und indonesische in Australien abgeschickt worden war. In kleinster Schrift vollgekritzelt, beschrieb mein Freund mir seine wichtigsten Reiseerlebnisse, Enttäuschungen und großen und kleinen Errungenschaften. Beeindruckend war seine Schilderung aus dem australischen Busch, wo er sich eines Nachts mit seinem Schlafsack bei voller Dunkelheit in eine Kuhle unter einen Baum legte. Morgens aufgewacht, blinzelte er zur Orientierung um sich und knapp einen Meter neben ihm lag genauso blinzelnd eine riesige Riesenschlange, die wohl kurz vorher Beute gemacht hatte und mit einem dicken Wanst verdaute. Känguru, Schaf – war die ungefähre Größe der Mahlzeit. So wie Kalle nun war, ergriff er nicht die Flucht, sondern schaute seiner neuen Freundin beim Verdauen zu. Sie bewegte sich kaum und blieb auf der Stelle. Der Fressknubbel wanderte immer weiter Richtung Ausgang und wurde dabei kleiner. Diese Prozedur der Nahrungsverwertung dauert bei großen Schlangen gemeinhin wochenlang und Kalle blieb. So passiert, wachte Kalle eines Morgens verlassen auf. Auch eine Form des Abschieds: nicht gefressen zu werden.
Kalle kam einige Monate später tatsächlich noch einmal nach Jülich. Nachdem sein letztes Elternteil gestorben war, musste er noch einmal nach Hause, um den Nachlass aufzulösen und seine letzten Bindungen in seine Heimatstadt endgültig zu kappen. Wir verlebten einen schönen gemeinsamen Abend, er mit seinem Staubmantel, Lederhose, Hut und immer barfuß – er brauchte und besaß keine Schuhe mehr – und erzählte, wie schwierig es war, auf nackten Füssen ein Lufthansa-Flugzeug zu besteigen oder bei der Deutschen Bank ein Konto aufzulösen und das gesamte Geld in Australischen Dollar bar ausbezahlt zu bekommen. Barfuß. Genervt von der Zivilisation. Er zog wieder von dannen, zurück nach Australien, wollte mit dem zur Verfügung stehenden Geld eine Kräuterfarm aufbauen. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Lebe er wohl.

Es sind aber nicht nur die Abschiede von Menschen, die unser Leben begleiten. Bin ich auf den letzten Seiten eines Buches angekommen, spüre ich Abschied von einem Begleiter schöner Stunden, kurzweiliger Unterhaltung und vielleicht Protagonisten, deren Schicksale mir nahe gegangen sind. Figuren, die ich wiedererkenne, bewundere, verachte. Gut erinnere ich mich an mein erstes Auto und den ungeplanten Abschied per Abschleppwagen Richtung Schrottplatz. Welch ein Verlust. Und die vielen Feuerwerke an der Rurbrücke zum Abschied des Lazarus. Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Silvesternächte mit Raketen, Glockengeläut, Sekt und Champagner zum Abschied und Neuanfang der Jahre. Auch ein guter Kinofilm oder ein mitreißendes Konzert darf am liebsten nicht enden. Herbeigerufene Zugaben aus hunderten oder tausenden Kehlen sollen den Abschied verzögern, von dem alle wissen, wie unweigerlich er kommt. Lasst uns lernen, den Abschied zu nehmen, wie er ist: als unausweichlichen Bestandteil unseres Lebens. Ich habe fertig.

„Tschüss und pass auf Dich auf“


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