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Umzuchstrilogie

Marlene Dietrich ist in ihrem facettenreichen Leben mindestens 35 mal umgezogen. Lange Zeit dienten ihr zum Transport und zur Aufbewahrung ihrer edlen Pelze, Roben, Schuhe, Handtaschen und unverzichtbaren Showaccessoirs bis zu 16 mannshohe, lederbespannte Schrankkoffer. Nur wenige persönliche Erinnerungen waren dabei. Möbel hat sie sich erst am Ende ihrer Weltkarriere für ihre Pariser Wohnung angeschafft. Dort ist sie vereinsamt gestorben.

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Hamburg - Jülich und zurück | Collage: D. Grasmeier
Hamburg - Jülich und zurück | Collage: D. Grasmeier
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Der Durchschnittsmensch wächst in einer Wohnung oder einem Haus an nur einem Ort auf. Dort bleibt er in seiner individuellen Mischung aus Freizeit, Familie und Arbeit meistens mehrere Jahre oder auch sein ganzes Leben. Je dauerhafter an einem Ort, um so ausgeprägter entwickelt sich das Ökosystem aus Nachbarn und angrenzenden Versorgungseinrichtungen. Die Stammkneipe oder der Supermarkt um die Ecke, die nächste Tankstelle werden Teil dieses Bleibens. Sind die bewohnten Immobilien im Familieneigentum, werden diese in der Regel von Generation zu Generation weitergegeben, also vererbt. Zumindest beim ersten Mal klappt das ganz gut. Darüber hinaus scheint dieses Privileg häufig dem Adel und denen mit Geld vorbehalten und wird von diesen in Perfektion praktiziert. Spätestens durch das Aussterben des „Drei Generationen Haushalts“ – also Eltern, Kinder und Kindeskinder unter einem Dach, wurde das Umziehen zu einem festen Bestandteil des Lebens. Oder wenn durch Erbstreitigkeiten und ungeregelte Familienverhältnisse Uneinigkeit entsteht oder einfach Platz für mehrere Generationen fehlt, auch wenn die flügge gewordenen Kinder das Nest verlassen. Der Weg in das betreute Wohnen, ins Hospiz ist oft der letzte Umzuch und dieser ist dann häufig mit viel Trauer und Verzicht der gewohnten Umgebung verbunden. Doch Umzuch ist nicht gleich Umzuch.
So hat es auch Jakob K. erlebt. Im Sommer hatte er sein Abi gemacht und heute geht es aus der tiefen rheinischen Provinz nach Hamburch – zum Studieren – wie Vater K. jedem stolz erzählt. BWL mit Schwerpunkt Logistik und Transport. Der Jung‘ wohnt „in Pension“, möbliertes Zimmer mit Familienanschluss. Ein Wunsch von Mutter K., die immer wieder in Tränen aufgelöst, schon seit Tagen nicht mehr richtig schlafen kann. Ihr Köbes zieht wirklich um.
Sechs Monate später – das Pensionsleben war es dann doch nicht für Jakob. Er ist mittlerweile in eine WG umgezogen, angeblich wegen „schnelleres Internet“. Hat Tütensuppe getauscht gegen Schweinebraten, zum Nachtisch Vanillepudding mit heißen Kirschen bei Ersatzfamilie – nennen wir sie Harmsen. Die Vermieterin meinte es zu gut mit Jakko – wie sie ihre „rheinische Frohnatur“ nannte. „Ich bin kein Papagei, Frau Harmsen“ – er hasste es so genannt zu werden und hätte am liebsten angefügt „….und lasse mich auch nicht dressieren“. Bei erster Gelegenheit seine sieben Sachen packen und ganz schnell Umziehen, das wurde zum Plan. Und so passierte der Umzuch nach dem Umzuch. Eltern K. sind nicht sehr angetan von der neuen Wohnsituation. Immerhin ist das Zimmer in der WG mit dem Namen „Rattenloch II“ im Schanzenviertel und fast drei Quadratmeter größer und mit „schnelleres Internet“ sogar 150 Euro billiger. Elternantrittsbesuch: die Mitbewohner sind zwei „Hartzer“ und zwei Langzeitstudenten der alten Schule mit kontinuierlichem Exmatrikulationsrisiko. Überwiegend schwarz gekleidet, tätowiert, jeder mit passender Freundin. Alle rauchen in der Wohnung. Alle. Alles. Dazwischen Köbes. „Jung, wie biste denn hier erein jeraten? Ob dat esu richtich iss? Verzäll!“
Köbes hat Ole, den „Kapitän“ der WG, während des G20 Gipfels kennengelernt. Der Kapitän führte einen Umzuch an, gegen den Kapitalismus und für das bedingungslose Grundeinkommen. Irgendwie Karneval aber auch nur irgendwie….. Oder so. Köbes stand zufällig genau dort, wo es dann zur Sache ging. „In der Nähe von da wo die Autos brannten. Ich wollte doch nur gucken! Habt ihr bestimmt in der Tagesschau gesehen. Bengalos auf die Reifen und ab dafür.“ Dann kam der Wasserwerfer. Gaffer (wie Köbes, er gibt es zu) und der schwarze Block werden eins – wie bei Lütje Lage. „Wat is datt?“ „Bier und Schnaps gemischt, Pap.“ „Hört sich juut an. Un dann?“ Reizgas und Schlagstock lösen das Menschenknäuel auf. Eingekesselt am Fischmarkt, Köbes Schulter an Schulter mit Ole. „Und da hat er mir erzählt in seiner WG sei ein Zimmer frei.“ Später im Rewe Tag der offenen Tür. „Alder, kannst Dir nehmen was Du willst, gebe einen aus, lass uns den Kiez rocken, das ist unsere Nacht“. Den Teil hat Köbes nicht erzählt, und den folgenden auch nicht. Es kamen große schwarze Männer. 95 Kilogramm aufwärts, eins neunzig groß, größer – im Kampfanzug, Sturmhauben, stahlhart und wortkarg wie ihre Helme, numeriert. Ole und Köbes sind zu langsam – gefühlte Horizontalbeförderung in einen VW Bus und ab zur Wache. Das volle Programm – Personalien, Fotos, Fingerabdrücke, Speichelprobe.
Nach 12 Stunden endlich raus. Mit dem Kapitän zum Rattenloch II. Und da ist tatsächlich ein Zimmer frei. Umzuch, diese Gelegenheit lässt sich Köbes nicht entgehen. Genausowenig wie die Teilnahme am Karnevalszuch in seiner Heimatstadt. Zur Klarstellung, das muss nicht Jülich sein und Ole muss auch nicht existieren.
Fakt sind G20 und Rewe und die realitätstheoretische Formel wie ein Umzuch im Rheinland passiert. Die friedliche Form eines Protestzuges gegen die Obrigkeit, also G20 für Rheinländer!
(Alaaf x Kamelle) + Jecke² = Spass
Sonnenschein

In Jülich findet dieser „Spass“ traditionell am Tulpensonntag statt. So gegen vierzehn Uhr startet der „bunte Lindwurm der Freude“ an der Stadthalle und die Wagen und Fussgruppen passieren zuerst das stolze Kinderdreigestirn auf ihrem Prunkwagen. Musik begleitet die Jecken. Trommlerchor und Trommler (die einen spielen Marschmusik, die anderen Samba), Technobeats vom Vierzigtonner (Love Parade oder was?) mit Cat Ballou und Bläck Föösse Tön vom Handwagen. Gemeinsames Motto oder ohne, Hauptsache kostümiert und mit genug Wurfmaterial. Organisiert vom „Festausschuß Jülicher Kengerzoch“, seit fast 60 Jahren. Bis in die frühen siebziger Jahre dominierten die „großen Wagen“ der traditionellen Gesellschaften. Nur eine kleine Schar Kinder hatte darauf Platz, vielleicht 5 bis 10 Privilegierte. Tieflader, Rübenanhänger und LKWs wurden in wochenlanger Arbeit unkenntlich kostümiert. Als „Fliegender Teppich“, „Kamelle Fabrik“ oder „Hexenhaus“ mit Hänsel und Gretel. Nie ein Wasserwerfer zum Motto Niagarafall? Anfang der siebziger Jahre kamen Fusgruppen dazu. Meistens in einheitliche Kostüme oder nach einem individuellen Motto gekleidet. Die „Räuber vom Hambacher Wald“, der „Treck nach Laramie“ oder „Zirkus“ sind da noch in guter Erinnerung. Die Kleinsten noch im Kinderwagen, Penz auf Fahrrädern, Ponykutschen wurden umgestaltet. Bis zu 80 Personen haben die teilnehmerstärksten Fußgruppen der letzten Jahre erreicht. Die „kleinen“ Abordnungen von Kegelclubs oder Fussballmannschaften runden das Bild ab. Gedacht von Kindern für Kinder. Gruppen, die nur von Erwachsenen gebildet werden, sind daher eher selten zu sehen. Im Zuch gibt es dann tatsächlich noch die drei Generationen, die gemeinsam Karneval feiern und die Begeisterung an die Jüngsten weitergeben. Wer diesen Virus einmal in sich hat, wird ihn ein Leben lang nicht mehr los. Zum Glück löst sich dieser Zuch dann ohne Wasserwerfer und Reizgas auf. Das Bier wird nicht im Rewe geplündert sondern in einer der vielen Kneipen am Zuchweg oder auf Parties im größeren oder kleineren Kreis genossen. Die erkennungsdienstliche Behandlung danach reduziert sich auf das Abschminken. Auch bei Köbes, der dieses Jahr als Kapitän dabei sein wird und von Ole im Pappschiff mit seinem zweijährigen Neffen über die Kölnstraße gezogen wird. Der eine oder andere „Blaue Engel“ wird dann an der Laterne stehen und auf ein Strüssje und Bützche warten. Wetten?!

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