Einen aufgeschütteten Berg, die Sophienhöhe. Ich wohne in Daubenrath. In Köln, von wo ich nach 40 Jahren fortgezogen bin, schaute ich auch auf einen Abraum. Kriegsschutt. Von den Straßen geräumt und im Grüngürtel zu Hügeln getürmt und nach mittlerweile sechzig Jahren von mächtigen Bäumen bewachsen. Dahinter der Aachener Weiher.
Nach heftigen Regenfällen zeigten sich auf den Wegen manchmal noch Ziegelreste und Putz auf dem Grund der Rinnsale, manchmal sogar mit einem Kachelrest darauf. Eine glacierte Scherbe, das Fragment eines Ornaments. Pflanzliches, Ranken, Jugendstil. Die Farben Jade, Champagner, Schilfgrün. Woher ich das so genau weiß? Ich bin Maler. Ich habe in Köln studiert, seitdem lebte ich dort freischaffend.
Ich bin nach Jülich gezogen, da ich nach 40 Jahren in Köln Lust auf etwas anderes hatte.
Obwohl das etwas geschönt ist. Wenn man 40 Jahre lang in einer Stadt sein Budget aus den sich wechselnden Gegebenheiten gestemmt hat, dann hat man alles schon einmal gemacht. Ich drehte mich im Kreis. Und wieso Jülich? Gut, ich habe Kontakte hier, vielleicht sogar Freunde. Aber unverzichtbar war das Wasser. Städte ohne Wasser sind für mich trostlos. In Köln der Rhein, hier die Rur. Das lässt sich nicht vergleichen, Köln und Jülich ebenso wenig, obwohl es einige sich ähnelnde Leitmotive gibt. Beides sind Städte um ein Wahrzeichen herum gebaut, der Dom, die Zitadelle, es sind Städte am Fluss, alte Städte.
Nicht weit von hier die Niederlande und Weert. Dort bin ich als Kind aufgewachsen. Vielleicht deshalb diese Affinität zur Ebene. Diese fort wachsende Landmasse, auf der im Sog nach Westen und am frühen Morgen einzig Hahnenschreie und Kirchtürme die Raumtiefe zum Horizont gliedern. Einem Horizont, der mit jedem Schritt darauf zu um eben diesen Schritt zurückweicht. Man verlangsamt. Die Ebene macht schlendern.
Ich bin ein guter Wanderer. Die Eifelhöhen im Südwesten weichen nicht zurück, sie wachsen an. Ich beschleunige den Schritt, wenn sich zwischen zwei Höhenzügen ein Ziel abzeichnet. Irgendwo dort hinten müsste Stolberg liegen.
Rosafarbene Blüten am Weg. Zuerst halte ich es für eine Variante des Storchenschnabels, aber die nadelartigen Blätter lassen diese Einordnung nicht zu. Ich kenne diese Pflanze nicht. Ich präge sie mir ein, Blätter, Blütenansatz. Ich könnte auch ein Foto mit dem Handy machen, aber so erfasse ich sie besser und ich werde sie beim nächsten Mal wiedererkennen. Zu Hause schaue ich in mein Bestimmungsbuch: echter Frauenspiegel, selten, zum Teil noch in den Abschwüngen der Eifel zu finden.
In Köln konnte ich vom Park aus durch den Stadtwald bis auf die Äcker marschieren. Es war wie eine Schleuse. Nur der Verkehrslärm drang hier und dort herüber, schließlich schwoll er an, die A4, eine Brücke, dann der Acker. Ich stehe im Bauernland, vor mir die Hügel des Vorgebirges.
Gerade nachts bei Neuschnee hatte diese Tour etwas Zwingendes. Ich ging durch den unberührten Schnee bis auf den Acker, hinter mir eine einzige Spur, meine. Nicht gerade wie der Fußabdruck von Neil Armstrong im Mondstaub, aber ein bisschen. Etwas längliches duckte sich an den Boden. Ich klatschte in die Hände. Ein Fuchs, er nahm die Schleuse in Gegenrichtung und fegte stadteinwärts davon.
Hier in Daubenrath sind es 125 Schritte bis auf den Acker. Die Hälfte davon benötige ich durch den Garten bis in den Hambacher Forst. Das hat die Entscheidung zum Umzug einfacher gemacht. Und natürlich: das Atelier bleibt in Köln. Ein Spagat, eine Erweiterung des Radius, kein Entweder-Oder. Ein Sowohl – Als auch.
Ich gehe durch den Hambacher Forst zum Kulturbahnhof. Jazz-Matinee. Der Wald zeigt alle Färbungen der warmen Palette von Zitrone, Orange, Rost, Kupfer, bis hin zum Zimt, Dunst-schwaden zwischen den silbrigen Buchenstämmen. Im KUBA bin ich einer der jüngsten und auch auf der Bühne stehen Herren jenseits der Pensionsgrenze, die aber ihren Swing über drei Stunden lang rußfrei abbrennen lassen.
Auch das Publikum, Schaltücher, Blazer, Krawatten, Kostüme, die Schatulle am Handgelenk, ein anderes Zeitsegment. Das ist ihre Musik. Als sie Kinder waren, haben ihre Eltern diese Musik gehört, spätestens seitdem Feldmarschall Montgomery die Zitadelle besichtigt hatte. Und vielleicht einige auch schon vorher, als Swingtanzen verboten war.
Eine Freundin stellt mir den Vorsitzenden des Jazz-Clubs vor. Fachsimpeln über den Swing, seine Herkunft, Beale Street, Basin Street, Rotlichtbezirke, Bordellstraßen. Damit kann Jülich, soweit ich das überblicke, nicht aufwarten, aber es ist eine Stadt mit sehr viel Musik. Ich habe gedacht, meine Saiten weiter in Köln zu kaufen, aber es gibt eine Musikalienhandlung. Im Schaufenster Fender-Gitarren, eine Neuauflage des AC 30. Was das ist? Der Verstärker des British Pop, selbst die Beatles spielten ihre Songs darüber. Auf der Bühne im KUBA ein Marshall Verstärker. Den machte Jimi Hendrix legendär, mit Voodoo Ketten behangen und der brennenden Fender Gitarre, die er mit den Zähnen spielte. Auch so ein Zeitsegment, meines.
Mein letztes Konzert? Underground, Köln Ehrenfeld. Der dekorative Helios Leuchtturm im Hintergrund, Holunder bewachsener Innenhof mit Bänken, Tischen, bunten Glühbirnen und am Eingang ein 2 Meter Afrikaner. Er tastet die Kommenden nach unerwünschten Gegenständen ab. Der Wein ist lauwarm, die Musik macht es wett. Und die Kunst? Eine Galerieeröffnung in der Düsseldorfer Straße. Ich treffe mich dort mit einer Freundin, sie ist noch nicht da. Ich sehe mich um, Mack, Penck, Christo, mein Blick bleibt an einem Rückenakt hängen, Markus Lüpertz. Eine großformatige Radierung, die Zinkplatte mit der Kaltnadel aufgerissen, Vehemenz und Zartheit. Danae, so der Titel, daneben Nagelreliefs von Uecker. Ich trete auf die Straße, meine Bekannte ist noch nicht in Sicht. Vor mir die gleiche Verlassenheit von Einkaufszonen wie auch in Köln. Es tut gut, hier in einer offenen Tür im Licht zu stehen.
Im Hexenturm eine Ausstellung des Kunstvereins, Radovan Matijek. Im Kaminsaal auf 5 x 3 Metern der Nadelfilzboden aus seinem Atelier an die Wand gehängt, darauf Zweige und Äste in Mustern und Rhythmen geordnet, wie die Linien einer Handinnenfläche. Ich darf ihn beherbergen. Er ist gleichzeitig auch Tänzer und er erzählt mir von seinen Straßenprojekten in Paris und London und von der istrischen Küste. Er ist ein Kroate aus Split und erzählt mir, wie man dort nachts mit dem Zehnzack und der Laterne angeln geht.
Ich bin neu hier. Die Kirschbäume vor meinen Fenstern haben jetzt die Blätter abgeworfen und geben den Blick auf die Türme der Hambacher Wasserburg frei. Richtung Niederzier ist der kaltblaue Himmel zerkratzt wie eine Schlittschuhbahn. Kondensstreifen. Ist das Richtung Frankfurt? Der Dunst färbt sich in Minuten orange und im türkisfarbenen Himmel werden die Streifen der Jets lachsfarben, über mir tauchen sie in ein Korallenrosa.
Es ist Herbst, die Ebene wird weit. Zwischen den Stämmen des Hambacher Forstes zeigt sich die Rückenlinie der Sophienhöhe. Beim nächsten klaren Frosttag werde ich hinauf steigen und einen Blick ins Umland werfen. Ich bin neu hier. Ich übe das Ankommen.
– Dieter Laue