Es war ein langer Tag, ein sehr langer Tag, eigentlich ein Tag wie jeder andere Tag, aber im Anschluss an diesen Tag versammelte sich noch der Rat zu einer langen, sehr langen Sitzung zum Wohle unserer geliebten Stadt. Im Prinzip eine Sitzung wie jede Sitzung, denn wie immer stritten Teile der Fraktionen heftig und unnachgiebig miteinander, um dann doch (fast) alle Anträge einstimmig zu beschließen.
Durch das Untergeschoss des Rathauses gelange ich über einen Nebenausgang auf den Parkplatz.
Es hat wieder geschneit, seit Tagen schneit es. Ich bin daher nicht mit dem Dienstfahrrad unterwegs, sondern habe heute Morgen den Bürgerbus genommen. Der glitzernde Schnee und die Ruhe in dieser Winternacht veranlassen mich, noch eine Runde durch die Stadt zu spazieren. Zuerst gehe ich die Große Rurstraße Richtung Hexenturm hinunter, ich passiere die Einmündungen zur Bauhofstr. und zur Bongardstr, dann bleibe ich plötzlich stehen, irgendetwas lässt mich nicht weitergehen.
Ich drehe mich nach links und schaue andächtig auf ein Haus… … ja, hier war es, genau hier, hier war unser „Jülicher Capitol“… mit seinem dunklen Eingangsbereich, der Kasse hinter Glas, den Plakaten hinter den großen Panoramascheiben, dem Schild neben der Kasse „Freitags 22 Uhr – Vorstellung nur für Erwachsene – Frauen freier Eintritt“ und der Ankündigung „Sonntags 14:00 Uhr – Kindervorstellung – 1,50 DM“.
Mein erster Film, erinnere ich mich, den ich ganz alleine ohne Begleitung gesehen habe, war „Prinz Eisenherz“, ein Superfilm, mit Robert Wagner in der Rolle des jungen Eisenherz.
Und genau in diesem Film habe ich mich zum ersten Mal verliebt, ja genau, mit 7 Jahren, hier im Capitol in Jülich.
Natürlich gehörte ich nicht zu diesen Weicheiern, die ihr „erstes Mal“ an die ach so nette Lehrerin der Grundschule vergeudet hatten, nein ich fühlte mich damals schon zu Höherem berufen, denn meine Wahl fiel auf „Prinzessin Aleta“, gespielt von Janet Leigh, mit megablonder Frisur, die den schwer verletzten Prinzen gefunden und gesund gepflegt hatte. Dass sich Aleta und Eisenherz letztendlich glücklich ineinander verliebt hatten, spielte für mich keine große Rolle, denn eins war ja klar, der da auf der Leinwand ist nur eine Rolle – ich dagegen bin echt!
Ach was sind die schön, diese Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit, aber ein Blick auf meine Schneeboots deutet mir an, dass ich wieder ins Jetzt zurückkommen und den Weg nach Hause antreten sollte, denn der Schneefall ist so heftig, dass ich schon in der kurzen Zeit knöcheltief in der weißen Pracht stehe. Also mach ich mich auf und gehe schräg über die Straße zum Hexenturm.
Den Hexenturm gerade durchschritten, vernehme ich von links eine liebliche Frauenstimme:
„Hallo junger Edelmann, gesellst Du dich ein wenig zu mir?“
Vor mir steht eine Frau, die etwas angestrengt ihre Arme auf einen großen Rahmen hinter sich gelehnt hat. Sie trägt ein für diese Witterung alles andere als nützliches blaues Kleid, aber offensichtlich fröstelt sie nicht.
„Höre mir gut zu, mein edler Ritter, deine Stadt ist in Gefahr, der schwarze Ritter ist auf dem Weg in Eure schöne Stadt und schon bald wird er hier seine Burg des Grauens und seine Schlösser der Verwerflichkeit errichten wollen. Schon seine römischen Urahnen hatten hier ihr Unwesen getrieben. Seht Euch vor, habt Acht!“
„Hmm, darf ich fragen, wer Ihr seid, holdes Fräulein?“
„Du kennst mich, man nennt mich Aleta“
„Jaja, ist klar ne, und ich bin der Landrat vom Kreis Jülich. Jetzt pass mal auf Mädchen, Alkohol ist auch keine Lösung, jetzt schnell nach Hause und dann husch husch ab ins Körbchen – verstanden?“
Ohne Ihre Antwort abzuwarten drehe ich mich um und setze meinem Weg durch das tief verschneite Jülich fort, da mein Bedarf an Verrückten für heute durchaus gedeckt ist.
Endlich daheim angekommen begrüßt mich meine Frau mit den Worten: „Das wird aber auch Zeit, dein Bruder hat schon 5mal angerufen.“
„Warum?“
„Keine Ahnung, wahrscheinlich wie immer… CDU, SPD, FDP, JÜL, Grüne, ULK, Hexenturm, Brückenkopfpark, blablabla… …, eben wie immer!
Wo warst du denn so lange??“
Etwas spaßig-provokant antworte ich: „Ich hätte mich fast in eine blaue Frau verliebt.“
„Fast?“
„Ja, fast!“
„Sei nicht traurig, wäre sie nüchtern gewesen, hätte es sowieso nicht geklappt… hahaha!“
Ich mache es mir auf dem Sofa gemütlich, vielleicht noch einen Cognac, ja vielleicht… edler Ritter, schwarzer Ritter, Burg des Grauens, Schlösser der Verwerflichkeit, römische Urahnen… hmm … römische Urahnen… römische Urahnen….
Oh Gott, das war ein Zeichen… die italienische Baumafia hat ihre Fühler nach Jülich ausgestreckt….
Aleta wollte mir ein Zeichen geben, Aleta ist gar nicht Janet Leigh, Aleta ist Aleta genauso wie Ich Ich bin.
Wie von Sinnen steig ich wieder in meine Boots und renne aus dem Haus, ich renne schneller als Forrest Gump, die Richtung ist klar: Hexenturm. Auf Höhe des Blumenhauses bricht es aus mir heraus:
„Aleta, Aleta – bitte verzeih mir.“ Angekommen – umarme ich sie innig.
Stille!
„Aleta, Aleta, bitte hilf mir diese Stadt zu retten!“
„Aleta? Aleta???
Aleta ist verdammt kalt, sie ist so kalt, dass meine Wange an ihrem Ohr festklebt, vielleicht hört sie deswegen nichts. Ich reiße mich von Ihr los und zur Strafe für mein ungebührliches Verhalten von eben, habe ich Ihr ein veritables Stück meiner Gesichtsepidermis auf Ihrem Ohr hinterlassen.
Der Schmerz auf meiner Wange tut jetzt seinen Teil dazu, dass ich wieder klar werde; ich war einmal mehr ein Gefangener meiner Phantasie: Aleta, Aleta….so ein Scheiss!
Aleta ist die „Blaue Frau“ vom Kunstverein, die arme Blaue Frau, die bei „Wetten dass“ die Wette anbieten könnte: Ich erkenne jeden Jülicher Besoffski an seinem Urinierungsgeräusch!
Missmutig und stinksauer auf mich selbst mach ich mich auf den Weg ins Nordviertel. Ich wünsch mir eine Zeitmaschine, ich fang nochmal ganz von vorne an, am besten mit Nahrungsergänzungsmittel aus Fläschchen von Alete!! Ach, was soll´s! Jetzt aber schnell in die Heia!
„Wo warst du denn nun schon wieder?“
„Nur mal schnell kontrollieren, wie hoch der Schnee liegt!“
„Guck mal, im Fernsehen läuft „Prinz Eisenherz“ – Suuuuuperfilm, ne? Diese brünette Prinzessin, ähh Prinzessin…“
„Ilene“
„Ja genau, Prinzessin Ilene, die Schwester von …äh..“
„Prinzessin Aleta“
„Ja genau, Prinzessin Aleta, also wenn ich ein kleiner Junge wäre… in die hätte ich mich bestimmt verliebt!“
„Ich besser auch – gute Nacht mein Schatz!“
Wie im wahren Leben – auch da brauchte ich verdammt lange um zu verstehen, dass Brünette besser zu mir passen!