Die Berlinale habe ich schon über 30 mal erlebt, aber noch nie das Festival in Cannes. Es ist das größte der Welt, wie ich dazu gelernt habe. Dachte bislang, irgend eines in den USA sei bigger & better. Nein, la grand nation ist überlegen. Fronk-raich, Fronk-raich! Ich gönne es den Franzosen und mir. Einmal im Jahr trifft sich die ganze Welt des Films in Cannes. Es wimmelt tatsächlich nur so von Filmgrößen, wenn auch nicht „zum Anfassen“. Die Prachtstraße Le Boulevard de la Croisette (Kreuzchen), kurz die Croisette parallel zum (angekarrten) Sandstrand gehört für zwölf Tage ganz dem Kino. Die Stadt, eigentlich nur gut doppelt so groß wie Jülich, wird dafür komplett auf den Kopf gestellt, auch die Straßenführung samt der Buslinien. Die Häuserfassaden verschwinden hinter Filmplakaten, deren Größe als Segel ausreichte, um um die Welt zu segeln. Aber wozu? Die Musik spielt doch hier! Am Strand wird ein Riesenkino aufgebaut. Die Millionen-Yachten der Filmproduzenten liegen frisch poliert dem Festival-Palais buchstäblich zu Füßen. Die Einwohner fliehen vor dem Rummel und vermieten ihre Wohnungen. Das Who-is-Who des internationalen Films fliegt ein und hat diesmal den 70ten Geburtstag des Festivals gebührend gefeiert mit lauter kleinen und großen Liebeserklärungen an das Kino. „Le cinéma, c’est comme l’amour, quand c’est bien, c’est formidable, quand c’est pas bien, c’est pas mal quand même.“ (George Cukor, 1899-1983, 1965 Oscar Beste Regie für My fair Lady)
Also: „Das Kino ist wie die Liebe. Wenn es gut ist, ist es umwerfend. Wenn es nicht so gut ist, ist es dennoch nicht schlecht.“ Cukor gilt als der Filmregisseur, der Frauen zu schauspielerischen Höchstleistungen animieren konnte. Wie auch immer. „Côte d’Azur, vell zu dür“, witzelte meine Chor-Mitsängerin Antje vor meiner Abreise. Zugegeben, ich hatte immer Angst vor Cannes. Dass ich nicht in die Filme komme, dass es zu teuer ist, dass ich da irgendwie verloren und untergehe. Ich habe abermals dazugelernt. Das Team vom Filmstudio an der RWTH Aachen, namentlich Dr. Markus a Campo, seines Zeichens Cannes-Kenner, hat mich adoptiert und ich fiel ins gemachte Nest. Drei Männer, ein Auto, zwölf Stunden Fahrt. Yes, we Can nes! Etwa alle drei Stunden Fahrerwechsel. Mit zeitweise sieben Leuten, haben wir eine Ferienwohnung 20-Busminuten außerhalb gemietet. Ich schlafe in der Küche auf einem Bettsofa, mal allein, mal geteilt mit Markus und zuweilen liegt vor mir auf dem Fußboden noch eine Medizinstudentin, die ich noch nie gesehen habe. Mir unverständlich, aber sie brauche es so für ihren Rücken. In dem eng geschnittenen Apartment klappt die einzige Toilettentür nur auf und zu, wenn einige Randbedingungen erfüllt sind. Schranktür im Flur gegenüber ZU, Zimmertür ZU, Badezimmertür, entweder ganz AUF oder auch ZU. Die sieben Personen haben einen Badezimmer-Zeitplan und spielen sozusagen TETRIS oder Magic Cube, um nach einigen Verschiebereien ihr Ziel zu erreichen. Cannes perfekt, aber ohne Übermaß an Luxus. Wie hieß doch gleich der Film mit Joachim Król? „Wir können auch anders.“ Aber das Essen, wie Gott in Frankreich! Ein gigantischer Supermarkt als Konglomerat von Feinkostabteilungen. Die Kette heißt denn auch Géant. Wir kochen selbst oder gehen essen. In´s Bier schütten wir einen Schuss Picon Bière. Das haben wir aus einem Film mit Michel Piccoli gelernt. Diesen appetitlichen Verstoß gegen das Reinheitsgebot gibt es nur in Frankreich und ab jetzt in Dürboslar. Eine Melodie meiner Kindheit kommt mir in den Sinn: „Erst mal entspannen, erst mal …“
Wir sind also angekommen und „wohnen auch schon“. Und zudem auch schön mit Pünktchen auf dem Oh, denn wir frühstücken auf einer Terrasse mit Blick auf das Mittelmeer. In Pausen tauchen wir kurz unter. Ziel erreicht? Ne, noch nicht ganz. Wir wollen doch „DIE TREPPE MACHEN“ also „faire les marches“. Die Cannes Erfahrenen haben es mir schon vorher eingebläut. „Peer, Du brauchst eine spezielle Ausrüstung, einen Smoking, US-englisch Tuxedo, kurz „tux“, englisches Englisch: A Dinner Jacket, kurz DJ. Dazu schwarze Schuhe und eine Fliege. Bloß keinen Schlips! Das wäre der Griff zum Rausschmeißen. Damit würden sie Dich aus der Menge zerren und abschieben.“ „Hm, kein Problem. Hab´ ich alles. Habe ich früher mal gebraucht und sieben Mal leihen ist so teuer wie einmal kaufen. Ich habe damals investiert, jetzt wird endlich amortisiert. Ich hatte das Teil bislang nur zweimal an, aber es passt mir noch immer, na, ja, ehrlich gesagt, wieder.“ Im Angebot sind nun über 1000 meist neue Langfilme, verteilt auf Kinos in ganz Cannes und noch einmal mindestens ebenso viele Kurzfilme. Die können wir auch an rund 30 PC-Plätzen in der Filmmesse schauen. Beim 70ten blickt man natürlich auch zurück, eine Retrospektive voller Perlen macht die Auswahl nicht leichter, und auswählen muss man, „einmal alles“ geht nicht. Die Lizenz zum Gucken manifestiert sich im sogenannten Badge, ein Kreditkarten großes Stück Plastik mit unserem Konterfei, das alle um den Hals hängen haben. Durch die Akkreditierung über das Filmstudio hatten wir die Möglichkeit für jeweils 300 Euro ein Market Badge zu kaufen und können damit im Prinzip alle zur Vorführung gelangenden Filme sehen.
Bloß für die offiziellen Vorführungen im Palais benötigen wir zusätzlich namentlich ausgestellte Papierkarten, die wir über eine Art Glücksspielautomaten beantragen können. Am Tag darauf sagt dieser uns dann, ob hip oder hop. Die größte Chance zu gewinnen, besteht bei dem 8:30 Termin morgens. Wir bemühen mehrmals das Fassbinder-Zitat: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“ Immerhin habe ich morgens in neun von zehn Fällen die Ferienwohnung MIT Frühstück verlassen. Gegessen wird im Stehen oder Gehen, jedenfalls VOR dem Eintritt ins Kino, denn da habe ich schon mein Baguettebrötchen abgenommen bekommen und auch die Halbliterflasche Wasser. Nach dem Terroranschlag im 33 km entfernten Nizza am Nationalfeiertag des letzten Jahres mit 86 Todesopfern aus 20 Nationen und mehr als 400 zum Teil schwer Verletzten ist die Panik vor einem Sprengstoff-Baguette groß und die Sicherheitsvorkehrungen sind immens. Die Stufen (les marches) zum Kino im Palais überwinden so einige Höhenmeter bis in den Film-Himmel. In Cannes zählt das „FAIRE LES MARCHES“ zum Non-plus-Ultra. Was heißt das eigentlich? Wörtlich „die Stufen oder halt die Treppe machen“. Es gibt Filmtitel, die so heißen, „Halbe Treppe“ von Andreas Drehsen, 2002. Und es meint keinesfalls „auf die Treppe machen“. Wenn meine Mutter gefragt wurde, ob sie die Treppe gemacht hätte, wollte der Vermieter wissen, ob sie geputzt ist. Anders in Cannes. Da sind die Treppen natürlich längst tipptopp und zudem mit einem roten Teppich ausgelegt und das nicht nur aus Anti-Rutsch-Gründen. Das Zeremoniell ist speziell und sprichwörtlich: Den Teppich abschreiten, die Stufen empor klimmen. Es geht aufwärts. Zuerst kommt das Fußvolk, also ich. Aber auch das ist bereits ein Privileg, denn manch andere werden an der Treppe vorbei durch einen Bypass hineingeleitet in das 2300 Sitzplätze fassende Palais des Festival et des Congrès. Zum Vergleich: In den Berlinale Palast passen 1754 Personen. Mein Dorf Dürboslar hatte vor einem Jahr 656 Einwohner. Zum Schluss kommen die A-Promis. Das Spektakel wird auf Filmleinwände draußen und im Kino übertragen und verkürzt das Warten. Solch ein Kino zu füllen ist eine logistische Aufgabe, die in etwa der viermaligen Evakuierung Dürboslars entspricht. „Sag‘ mal, möchtest Du nicht etwas über die Filme erzählen?“ „Wozu denn, die kommen ja doch alle irgendwann im Kuba.“ Das stimmt natürlich nicht so ganz. Das gilt wie bei der Berlinale vielleicht für die Hälfte der Wettbewerbsfilme. Und aus den anderen Programmen verschwindet Gutes im Nirvana. Gut, so viel: Allein schon „Wonderstruck“ von Todd Haynes war für mich die Reise wert. Ich hatte weder Taschentuch noch Sonnenbrille. Aus mir quollen Rotz und Wasser. Das habe ich nicht ahnen können. Es hat mich kalt erwischt. Ein Brillentuch, das ich zufällig auf dem Fußboden fand, war meine Rettung. In dem Film suchen zwei Jugendliche zeitversetzt nach dem verlorenen Familienglück. Filmisch grandios gelöst mit Stummfilmeinlagen in schwarz weiß. Die Figuren entwickeln sich parallel und finden schließlich als des Rätsels Lösung zueinander. Emotionale Achterbahn für einen, der mit neun seinen Vater verloren hat.