Das Licht kriecht langsam über den Schlafzimmerboden. Schön muckelig zwischen Plumeau und Kopfkissen gekuschelt beginnt der Tag. Jetzt noch 10 Minuten! Noch einmal kurz umdrehen – den Wecker eine halbe Stunde weiterdrehen. Da kommt es angekrochen: ein kleines, unangenehmes Tierchen. Es setzt sich in den Nacken, zieht und zerrt an der Bettdecke der Bequemlichkeit, macht ein schlechtes Gewissen.
Disziplin
Wird dieses Tierchen ignoriert, rächt es sich bitterlich. Es ist so, als würde es der Welt noch einen Schubs geben, damit sie sich nicht nur weiterdreht, sondern schneller. Und schon beginnt die Rennerei: Den 10 Minuten erkaufte „Kuschelzeit“ folgt der panische Blick auf die Uhr. „Lauf!“, sagt sie, „Du bist schon wieder spät dran.“ Frühstück auf die Hand, Coffee to go.
Es ist so einfach, es nicht zu mögen! Es klingt nach Gängelung, nach Verzicht und dem Gegenteil von Gemütlichkeit oder Freizeitspaß. Es scheint der allseits präsenten „Work-Life-Balance“ den Garaus zu machen.
Aber hat es den schlechten Ruf eigentlich verdient? Ist es in den Genen des Tierchen nicht verankert, dass es als steter Begleiter dafür sorgt, dass alles „rund läuft“? Dass der Bus pünktlich kommt, der Einkauf erledigt wird, der Arzt die OP nicht versäumt, das eigene Heim nicht im Chaos versinkt, der Mensch nicht übellaunig und übelriechend durchs Leben läuft? Und tatsächlich war es gerade in deutschen Landen mal ein echtes Modetier, mit dem man sich gerne schmückte und auf das man stolz war. Aber alles Preußische ist ja inzwischen ziemlich verpönt und exerziert auf dem Übungsplatz der Geschichte.
Naja, nicht immer: Das Tierchen „Disziplin“ ist tatsächlich auch heute noch beliebt! Allerdings wünscht man es meist den „Anderen“ als Begleiter. Zugeteilt wird es vor allem gerne Kindern und Jugendlichen, Auszubildenden, Kollegen und Angestellten. Ein Kuriosum.
Mit Stolz betrachtet wird es dagegen, wenn es einen „Zunamen“ bekommt: Steht ein „Selbst“ davor, führt es zu stolzgeschwellter Brust oder wenigstens großer Zufriedenheit, denn mit „Selbstdisziplin“ ist schon viel erreicht worden. Auf einmal wird es ein großes, elegantes Tier, denn es lässt aufsitzen und trägt einen geradezu über die Ziellinie – natürlich nur, weil der „Besitzer“ es richtig zu führen wusste und dressiert hat. Aus dem fiesen kleinen Tier wird mit einem Augenklimpern der Araber unter den Tugenden. Gerade übrigens hat es wieder Hochsaison: Es ist Fastenzeit. Erlegt wird es meist über Kippe und Korn zu Ostern.
Es ist mit diesem Tierchen aber eigentlich so, wie es mit allen Lebenwesen ist. Wenn es gestreichelt wird, gepflegt, gefüttert und mit Zuwendung bedacht wird, dann kann aus dem fiesen „Gremlin“-Tierchen vielleicht sogar ein Mogwai werden, ein freundliches, liebzugewinnendes „Kuscheltier“ – die Älteren und Cineasten werden den Vergleich verstehen. Zum Handschmeichler wird das Tierchen „Disziplin“, wenn es dem Tag „Struktur“ gibt, es zum „Alltag“ gehört und zur „Haltung“ wird, die Körper wie den Geist betrifft. Der Boxer Mike Tyson formulierte das so: „Disziplin bedeutet, Dinge, die man hasst, so tun, als würde man sie lieben!“ Für das Tierchen Disziplin gilt darum das, was für jedes Haustier gilt: Je besser es erzogen ist, desto einfacher ist der Umgang. Manche müssen es vielleicht an der Leine führen, damit es nicht laufen geht, andere kommen mit „Freigängern“ klar. Einigen reicht genügsam, wenn sie „Gassi gehen“, anderen wollen Extrarunden drehen. Der persönlichen Entscheidung obliegt es auch, ob das Tierchen aufs Sofa darf oder doch im „Körbchen“ Platz nimmt.
Eine gewagte These stellt Unternehmensberater Stefan Fourier auf, über die nachzudenken lohnt: „Disziplin ist der Schlüssel zur Freiheit.“
Und dann lohnt sich noch, auf etwas ganz Unglaubliches zu gucken: Es gibt nicht nur eine Disziplin! Sie können auch in Rudeln auftreten und heißen dann Disziplinen. Das ist aber etwas ganz anderes. Es gibt sie praktisch in jeder Lebenslage: Im Sport, beim Lernen und sogar beim journalistischen Schreiben. Aber dann… Dann kommt wieder Teil 1 zum Tragen: Wer nämlich hier auswählt, sich für eine Disziplin entscheidet und erfolgreich über eine Ziellinie kommen will, der muss sich wieder mit dem kleinen fiesen Tierchen auseinandersetzen.