Gestatten Sie mir als Eröffnung dieser
Geschichte, eine kleine Frage zu stellen. Welchen Film finden Sie charmanter, den französischen Streifen aus den Siebziger Jahren mit Catherine Deneuve oder den aktuellen Hollywood Blockbuster mit Matt Damon?
Mitnichten soll es hier darum gehen, französche oder amerikanische Klischees zu nähren, denn das wäre im tiefsten Sinne uncharmant. Aber die Frage zu stellen: Was ist eigentlich Charme, und ist unsere Welt überhaupt noch charmant genug? Ja und falls nicht, wie können wir sie charmanter machen? Also gut, Leser, mir nach.
Nicht, dass Sie gleich einen falschen Eindruck über den Verfasser dieser Zeilen bekommen, aber in diesem Ausnahmefall, erwies sich das Wörterbuch als durchaus nützlich, um sich dem Thema Charme zu nähern. Vom lateinischen „Carmen“, folglich das Lied oder auch Gedicht leitet es sich ab, und charmant bedeutet betörend oder auch verzaubernd. Seht trefflich! Lieder und Gedichte schreibt und trägt man vor, um zu betören oder zu verzaubern. Dies hat, und hier müssen wir einen dicken Trennstrich ziehen, nichts mit imponieren oder beeindrucken zu tun. Oder denken Sie, Posing wäre in irgendeiner Weise charmant? Falls ja, bitte weiterblättern. Sind Sie noch da? Gut! Also jemanden zu betören oder zu verzaubern bedeutet, sie oder ihn für sich einzunehmen, ganz ohne Großspurigkeiten, sondern ganz und gar menschlich. Kleine Fehler sind also nicht nur erlaubt, sondern förderlich, ja charmant, möchte man meinen. Mag ja sein, dass Vertriebsprofis aller couleur beim Vermarkten ihrer Produkte eine „perfekte Performance in Hochglanz“ hinlegen, aber ist das charmant? Denken Sie einmal an besonders romantische Erlebnisse in Ihrem Leben zurück. War da immer alles perfekt? Oder lachen Sie heute noch gerne über das misslungene Risotto beim Italiener, den plötzlichen Wolkenbruch während des gemeinsamen Spazierganges, als sie und Ihr Liebster oder Ihre Liebste Schutz unter einer alten Eiche suchen mussten?
Charme hat also ganz eindeutig mit dem Bewusstwerden darüber zu tun, dass es auf der Suche nach dem Glück hier und da Stolpersteine gibt. Warum streben wir also immer so sehr nach der perfekten Außenwirkung und versuchen so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten? Ganz so, als wären wir mit Kevlar beschichtet, so dass möglichst nichts an uns haften bleibt? Fangen wir an, die bunte Welt der Werbung zu kopieren und uns selbst wie ein Produkt zu vermarkten – möglichst perfekt? Wie uncharmant! Hier ein zünftiges Beispiel: Auf einer endlos scheinenden, leicht hügeligen Wiese sitzt unter einem vollkommen einsam dastehenden Baum ein älterer Herr im Trachtenjanker auf einem Stuhl an einem Pult und schreibt mit einem edlen Schreibgerät mit Tinte und vollendeter Schrift „130 Jahre Brautradition“ auf ein Blatt Papier und führt anschließend wonnevoll lächelnd ein großes Glas goldgelben Gerstensaftes zum Mund. Anschließend sehen wir denselben älteren Herrn gesellig inmitten eines Schwarmes junger attraktiver Volksfestgäste, die ihn umringen und alle auf sein Wohl zu trinken scheinen. Er selbst blickt zufrieden in die Kamera und erklärt, seit 130 Jahren braue man bei ihm bereits voller Leidenschaft Bier und fühle sich der Tradition und dem Genuss verpflichtet. Ein vollkommenes Idyll des ländlichen Lebens präsentiert uns derzeit ein Weizenbierhersteller in absoluter Hochglanz-Perfektion. Werbung ist Blödsinn, werden Sie sagen. Das weiß doch jeder. Stimmt! Und warum ahmen wir sie dann tagtäglich nach?
Zurück zu unserem äteren Herren aus dem Bierwerbespott. Wie kommt eigentlich der Stuhl, auf dem er sitzt, sowie sein Pult mitten auf die
Wiese? Hat der alte Herr sie dorthin getragen? Wohl kaum. Hat jemand Tisch und Stuhl dort dauerhaft installiert? Blödsinn! Wieso ist der vollkommen freistehende Baum noch nicht vom Blitz getroffen worden? Wieso schreibt ein Braumeister, der mutterseelenallein auf weiter Flur sitzt „130 Jahre Brautradition“ auf ein Blatt Papier? Nimmt er Papier, Füllfederhalter, Stuhl und Tisch immer mit auf seine Wanderungen, um sich dann schriftlich selbst an 130 Jahre Brautradition zu erinnern? Ist er sein ganzes Leben lang jeden Tag zur Arbeit gegangen, getragen von der Leidenschaft zum Bier und der Verbundenheit zum Genuss und der Tradition? Ist er mit Mitte siebzig der bevorzugte Partygast, mit dem 20-Jährige am liebsten abfeiern? Ich kann nicht mehr weiterschreiben! Aber dies ist doch nur ein Beispiel von vielen für die allgegenwärtige Charmelosigkeit unserer Zeit, in der jeder sein eigenes Hochglanzprospekt vor sich herzutragen scheint. Betrachtet man die Profile in den sozialen Netzwerken, erlebt man Fassadenbau der ganz
modernen Art. Man muss sich gar nicht lange mit den Profilen befassen und kann meistens schon den Profilbildern entnehmen, in welche Kategorie der User passen möchte: „Die trendige Karrierefrau“, „Der unkomplizierte Draufgänger“, „Die Sexbombe“, „Der trendige Großstädter“ oder „Die verrückte Kreative“… Dem ersten Anschein nach alles perfekt, beim genaueren Hinsehen aber genauso falsch und erdichtet wie der Weißbierwerbespott. Zurück dazu! Wäre ein Braumeister der ehrlich zugibt, dass er bereits dreimal eine Wirtschaftkrise überstanden hat, nicht sympatischer? Oder ein Braumeister, dessen Gattin
darüber wacht, dass er es mit dem Konsum
seines Weißbräus nicht übertreibt – wäre das nicht charmanter? Man kann es drehen und wenden, ohne Charme ist unsere Welt weit weniger lebenswert und menschlich. Und ist nicht letztlich auch der Humor ein naher Verwandter des Charmes? Also weg mit den Onlineprofilen und her mit den echten Menschen. Weg mit der großspurigen Eigenwerbung und her mit dem Charme! Und manchmal regnet es auch in
Filmen mit Catherine Deneuve.
René Blanche