Wenn dieser Tage auf den Straßen die Zahl der Autos mit kleinen an die Scheiben geklemmten und über die Außenspiegel gezogenen Deutschland-Fähnchen immer weiter zunimmt, auffällig viele Menschen im Trikot unserer Nationalmannschaft herumlaufen und auf wundersame Weise sämtliche Geschäfte an manchen Tagen für 90 Minuten wie leergefegt sind, sollte selbst dem größten Fußballverweigerer klar sein: Es ist wieder so weit! Die Fußball-Weltmeisterschaft ist in vollem Gange!
Nicht selten wird man in diesen Wochen wahrscheinlich von Freunden und Bekannten zu hören bekommen: „Und? Wo schaust du das Spiel?“ Mittlerweile ist dies eine nicht unberechtigte Frage, denn während früher höchstens mal die ein oder andere wichtige Begegnung unserer Nationalmannschaft im kleinen privaten Kreis mit Freunden geschaut wurde, erfreut sich seit dem „Sommermärchen“ von 2006 während den Welt- und Europameisterschaften ein ganz besonderes Phänomen äußerst großer Beliebtheit. Zu den Spielen der deutschen Kicker treffen sich regelmäßig große Menschenmassen an öffentlichen Orten und schauen gemeinsam auf riesigen Leinwänden unseren Jungs bei der Arbeit zu. „Public Viewing“ nennt sich das, ein nicht ganz so glücklich gewählter Begriff für eine an und für sich sehr schöne Sache, bezeichnet er doch im Amerikanischen die offene Aufbahrung von Verstorbenen. Auch wenn das ein oder andere Spiel vielleicht Grund zur Trauer gibt, erscheint vielleicht doch eine andere Bezeichnung angemessener. Dies fand auch der WDR-Radiosender 1LIVE im EM-Jahr 2008, suchte deshalb eine treffendere Alternative zur „Leichenschau“, die ganz ohne alberne Anglizismen auskommen sollte, und prägte zusammen mit seinen Hörern den weitaus charmanteren Ausdruck „Rudelgucken“. Beide Bezeichnungen haben sich in den letzten Jahren übrigens so weit eingebürgert, dass sie sogar im Duden zu finden sind.
Auf dem Weg in die Geschichtsbücher ist der Kuba. Dort fand bereits im vergangenen Jahrhundert das erste Public Viewing statt. Am 17.06.1998 berichteten die Jülicher Nachrichten von einer Atmosphäre wie im Stadion. Gemeint war die Halle des Kulturbahnhofs, in der über 150 Fußballbegeisterte den Sieg von Berti Vogts und seinen Jungs über die USA bejubelten. Mit einem 400 Ansi Lumen Beamer projizierte man damals auf eine 3 x 4 Meter große LKW-Plane. Alles hat mal klein angefangen. 2000 spielte die deutsche Mannschaft eigentlich gar nicht mit, die Zahlen der Besucher im Kuba stiegen trotzdem und 2002 war die Halle regelmäßig ausverkauft. Es brauchte trotzdem weitere vier Jahre und das Sommermärchen bis der „Jülicher Virus“ sich über ganz Deutschland ausgebreitet hatte und Fanmeilen mit 300.00 Besuchern wie in Berlin entstanden.
In Jülich verteilt sich das Phänomen recht weitläufig, je nach gewünschter Location findet man hier seinen Platz. Gemeinsam ist allen eine sehr ausgelassene Stimmung, denn die meisten Veranstalter legen sich richtig ins Zeug um ihren Gästen ein unbeschwertes Fußballfest bieten zu können. Das geht schon bei der Dekoration der Örtlichkeiten los, die gefühlt von Turnier zu Turnier fantasievoller und opulenter werden und endet bei der Bewirtung, die keine Wünsche offen lässt, Stadionwurst, Grillspezialitäten oder selbstgemachte Burger inklusive. Aber auch die meisten Besucher geben sich richtig Mühe und tragen mit schrägen Fanoutfits, bunten Bemalungen und bewaffnet mit Rasseln, Fanfaren und allem, was sonst noch Krach macht, ihren Teil zu einem fröhlichen Bild bei.
Wenn die Halle im Kulturbahnhof fast aus allen Nähten platzt, die Gäste des Liebevoll liebevoll den Vorplatz der Propsteikirche in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer verwandeln, bei der Feuerwehr euphorisch gejubelt wird und die Zuschauer vor Lynch´s Irish Pub fast bis auf die Straße stehen, herrscht schon eine ganz besondere Atmosphäre in der Stadt. Rudelgucken macht hier einfach Laune und ist immer wieder für Überraschungen gut. Ob spontane Massentanzeinlagen, verrückte Voodoorituale zur Schwächung des Gegners oder minutenlange (nicht schöne, dafür umso lautere) Gesangsdarbietungen aus Dutzenden vom Bier gut geölten Kehlen: Es gibt dabei anscheinend nichts, was es nicht gibt. Und so mancher Beobachter mag sich verwundert die Augen reiben, wenn sich Fans von Borussia Mönchengladbach auf einmal einträchtig mit Anhängern des verhassten 1. FC Köln beim Torjubel in den Armen liegen. Aber gerade das macht wahrscheinlich den Reiz einer solchen Veranstaltung aus. Statt sich wie sonst wegen seiner Vorliebe für eine bestimmte Fußballmannschaft gegenseitig verbal zu zerfleischen ist man hier Teil einer großen Gruppe, die geschlossen zu einem Team hält. Da diskutiert der Rentner mit dem Studenten über Entscheidungen des Schiedsrichters und die Hausfrau stößt mit dem Rechtsanwalt auf einen besonders gelungenen Spielzug an.
Wenn man den Begriff Public Viewing googlet, stößt man auf mehr als einen Versuch einer tiefenpsychologischen Deutung dieses Phänomens. Aber um seine Beliebtheit zu erklären, braucht man nun wirklich kein abgeschlossenes Psychologiestudium. Wenn wir zusammen Fußball schauen, sind wir alle gleich, unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Stellung. Wildfremde Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun haben, kommen ins Gespräch und feiern zusammen. Dabei stellt man bei den meisten eine unbändige Freude daran fest, seinen Emotionen lautstark freien Lauf zu lassen, seien sie positiv oder negativ. Und frei nach dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude“, lassen sich alle davon anstecken. Spätestens dann zeigt sich, wie treffend die Bezeichnung Rudelgucken doch ist, erinnert der Anblick einer kollektiv jubelnden, schimpfenden oder trauernden Gruppe Fans doch sehr stark an eine Meute heulender Wölfe…
Natürlich ist die Stimmung am besten, wenn das DFB-Team gute Leistungen bringt. Je mehr Tore für sie fallen, umso ausgelassener wird gefeiert. Doch auch bei einer Niederlage ist unter den Zuschauern eine besondere Gruppendynamik zu spüren. Da muss auch schon einmal der Nachbar, den man vor dem Anpfiff noch gar nicht kannte, getröstet und mit Taschentüchern versorgt werden, damit er seine Tränen trocknen kann. Gerne kommt es danach auch zu Beschimpfungen des Gegners, des Schiedsrichters oder auch der gegnerischen Fans, denn nicht selten fahren nach einem Sieg der Italiener oder der Portugiesen entsprechende Autokorsos durch die Stadt. Doch alles in allem sind auch solche Begegnungen in der Regel eher harmloser Natur, und auch der im Eifer des Gefechts groß angekündigte Panciera-Boykott, wenn Deutschland gegen Italien verloren hat, bleibt in der Regel aus oder ist zumindest nach ein paar Tagen wieder vergessen.
Wie diese Weltmeisterschaft für unsere Mannschaft ausgeht, lässt sich leider noch nicht sagen. Wobei dann natürlich auch die ganze Spannung weg wäre. Hoffen wir, dass sie möglichst weit kommen, damit wir das ein oder andere Fanfest zusammen feiern können. Vielleicht sieht man sich ja…