Der einzige Schauspieler auf der Bühne, Felix Frenken, geht in dem sehr herausfordernden und vielschichtigen Stück in einen intensiven Dialog mit dem Publikum und stellt Fragen, die tief in die menschliche Existenz eindringen und das Publikum im innersten berühren können. Judas begegnet dem Publikum dabei als Mensch in allen Facetten und löst so das moralisch Schwarz-Weisse der ursprünglichen Geschichte über den Judaskuss, wie sie seit 2000 Jahre erzählt wurde, in Grautöne auf. Zentrale Themen des Stückes sind Zweifel und Glaube sowie Schuld und Menschlichkeit und nicht zuletzt selbstbestimmtes Handeln gegenüber einem vorherbestimmten Schicksal, die jeweils in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, das nicht gänzlich aufgelöst werden kann.
Frenken, der unter der Regie von Ingmar Otto in die Gestalt des Judas geschlüpft war, erzählt die Geschichte als eine Art Ergänzung zur Passionsgeschichte Jesu, in der er in der Bibel-Version nur als Verräter vorkommt. Doch er weckt auf verschiedene Weise Zweifel, an der absoluten Gültigkeit der Auslegung. „Sie müssen mir nicht glauben“, betont er dabei. Ganz deutlich sagt Judas den Menschen: Ohne seine Schuld und den Verrat hätte es auch die Erlösung durch Jesus nicht gegeben, so wie es ohne Licht keinen Schatten gibt, und ohne das Böse eben nicht das Gute. Er trage seinen Namen auch weiterhin mit Stolz, denn auch dieser habe Tradition in seiner Familie und seinem Stamm.
Judas hält den Menschen in dem Stück auch einen Spiegel vor und Schauspieler Frenken schafft es sehr eindrucksvoll, alle großen und kleinen Verfehlungen der Menschen mit starker und intensiver Performance Ausdruck zu verleihen: von Kleinlichkeit und Cholerik bis hin zu Lüge und Penetranz ist er ein glaubwürdiges Abbild von der Gesellschaft. „Irgendjemand hier hat noch nicht bezahlt!“ merkt er immer wieder an und versucht seinen Ärger nur lückenhaft zu verstecken. Doch auch das ist Teil der Rolle in der Rolle, die er brillant spielt. Durch lockere Gespräche und Witze wirkt Judas plötzlich sehr nahbar und wie einer aus der Mitte der Menschen.
So facettenreich wie ein Prisma ergaben sich im Laufe des Abends immer neue Aspekte in der Lesart dieses von Schuld handelnden Kapitels der Bibel, indem es aus der Perspektive eines einfachen Menschen erzählt wird, der sich aus dem eigenen Zweifel heraus in sekundenschnelle folgenschwer falsch entschieden hatte aber sich am Ende für den Verrat an Jesus selbst richtete. Judas möchte dem Publikum nahebringen, dass er seine eigene Geschichte mit Jesus hatte, der wiederum nicht immer so gut in Freundschaftsdingen gewesen sei. „Es gibt keine Zeugen für die Momente mit ihm“, macht er deutlich und erzählt Details, die Perspektiven verschieben: „Ich habe ihn begrüßt an dem Abend, ja. Mit einem Kuss, ja. Und ich flüsterte zwei Worte, die nur er verstehen konnte. Ich war überrascht, dass er nicht geflohen war“, erklärt er.
„Ich bin kein Mann der lange zweifelt. Das Leben wird nicht aufhören, wenn du dich nicht entscheidest“, verteidigt er sein Handeln. Glaube braucht keine Aktion. Der Zweifel, das ist das schwarze Loch zwischen zwei Handlungen“, erklärt er philosophisch. Da gilt es heraus zu kommen. Seine Entscheidung war ein folgenschwerer Schnellschuss. Aber war es wirklich seine Entscheidung? Oder sind wir doch alle nur ein Spielball des Schicksals? Ist alles schon vorbestimmt? Der Gedanke sei verlockend. „Ich war nur ein Werkzeug“, versucht er sich selbst zu sagen. Dennoch fühlt er die Schuld auf sich lasten, die mit seinem Namen untrennbar verbunden ist. Den Schmerz darüber drückt er in seiner ganzen Körpersprache aus.
Mit seiner Tat ist Judas zu einer Art Anti-Helden geworden und trägt eine ewige Last. Noch vor Jesus starb auch er, indem er sich selbst erhängte, weil er seinen ehemaligen „Freund und Meister“ Jesus für 30 Silberlinge verraten hatte. Deshalb sei nicht Jesus, sondern er, Judas, für die Sünden gestorben. „Ich wurde auserwählt. Von ihm. Oder von Gott, wer weiß das schon“, begibt er sich irgendwo neben Jesus auf die Waagschale und kratzt auch an der Dreifaltigkeit. „Ich hoffte ihn noch zu sehen, auf der anderen Seite. Aber nein, er nahm eine andere Route“, bedauert er. Judas weiß, dass es für ihn, den Sünder, keine Erlösung gibt. Denn es brauchte seinen Verrat für die Geschichte, im Sinne der Dualität von Gut und Böse.
Das philosophische Arsenal des Stückes ist ebenso groß, wie die Performance von Frenken großartig war: Die Reaktion des Publikums: begeistertes Zuhören, Staunen und beginnende Gespräche beim Rausgehen. Der Schauspieler erzeugte Spezial-Effekte allein durch seine Stimme und Gestik. Aber auch die Beleuchtung und Ausstattung sorgten für eine ganz besondere Atmosphäre. Am Ende blicken alle Zuschauer auf ein hochaufgerichtetes Holzviereck mit 12 Kerzen, welche die Aposteln symbolisieren – der Spiegel, in den sie selber schauen.
Pastoralreferentin der Gemeinde Heilig-Geist Jülich, Barbara Biel, wirkte begeistert von dem Stück und fand es besonders spannend, dass es von einer Frau geschrieben war, nämlich von der Niederländerin Lot Vekemans. “Er wollte ja etwas Gutes. Er war davon überzeugt, dass sein Weg richtig war. Jesus ist eben einen anderen Weg gegangen, so ihre Deutung. Indem er sich selbst gerichtet hat, ist er auch mutig gewesen“, so Biel. „Es ist Theater, wie es sein soll: Es vermittelt Denkanstöße. Das Stück erzählt die Geschichte, wie es auch gewesen sein könnte“, erklärt Stephan Josephs vom Grenzlandtheater.
Fotos: Volker Goebels