Justitia ist so populär wie nur wenige Symbole. Jeder kennt sie. Sie ist die Personifizierung und Inkarnation der Gerechtigkeit.
Meistens wird die Herkunft dieses so vertrauten Symbols aufgrund des lateinischen Namens völlig falsch eingeschätzt.
Die Römer kannten das Symbol der Justitia zunächst gar nicht. Im antiken Rom war die Justitia mit Schwert und Waage als Verkörperung der Gerechtigkeit völlig unbekannt. Selbst das Wort Justitia findet sich nur sehr selten im altrömischen Sprachgebrauch. Erst später unter dem Einfluss des griechischen Denkens wurde der Begriff auch in Rom heimisch.
Die Geburtsstunde der Justitia, wie wir sie heute kennen – mit Schwert und Waage – wurde erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts eingeläutet. Im Dom zu Bamberg finden wir Deutschlands wohl älteste Darstellung der Justitia, geschaffen im Jahr 1247 als Abbildung auf dem Sarkophag des aus Deutschland stammenden Papstes Clemens II.
Mächtig ist Justitia in ihrer imposanten herkömmlichen Darstellung, gewaltig und durchsetzungsfähig.
Aufrecht steht sie, das Haupt erhoben.
Sie ist ruhig und standhaft, bereit, das Recht, das sie verkörpert, zu sprechen und durchzusetzen.
In ihrer Nähe ist ein Hauch des Erkenntnisgrundsatzes zu verspüren, vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand zu sein.
Aber womit „blingt“ Justitia denn nun schon seit hunderten Jahren und warum?
In der rechten Hand hält sie das Richtschwert.
Mit dem Schwert verteidigt Justitia das Recht, das Schwert ist damit Symbol materieller Gerechtigkeit.
Gleich ob stumpf, scharf oder zweischneidig: In jedem Fall drückt das Schwert hoheitliche Macht und majestätische Autorität aus.
In der linken Hand balanciert Justitia die empfindliche Waage, die Insignie abwägender Vernunft.
Mit Hilfe der Waage ermittelt Justitia feinste Differenzen und findet heraus, was gleich und was ungleich behandelt werden muss.
Denn sie hat vieles zu wägen: Die Argumente der Streitparteien, die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, die Schuld oder Unschuld Angeklagter bis hin zur Anwendung des berühmt-berüchtigten Rechtsgrundsatzes „in dubio pro reo“.
Und dann ist Justitia mit der Augenbinde noch von Blindheit geschlagen, oder? … Nein, eben gerade nicht.
Denn die Augenbinde garantiert im Gegenteil höchstmögliche Objektivität, fast schon Perfektion der Rechtsprechung, sie bewahrt Justitia vor Irrtum und Rechtsmissbrauch.
Justitia ist in der Pflicht und Verlegenheit, sich entscheiden zu müssen und dabei Gerechtigkeit sowie den ehernen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz obwalten zu lassen.
Bei diesen ihren Entscheidungen soll sie sich nicht von beteiligten Personen lenken lassen oder gar abhängig machen.
Sie soll ohne Ansehen der Person, ohne Ansehen von Rang und Namen, Herkunft und Hautfarbe, Geschlecht und Religion, mithin unvoreingenommen und unparteilich urteilen.
Übrigens wohnte der Augenbinde ursprünglich bei den früheren Darstellungen der Justitia bis um das 1500 herum die völlig gegenteilige Bedeutung inne.
Sie sollte den Spott über die Blindheit der Justiz zum Ausdruck bringen, was sich hingegen im Verlauf des 16. Jahrhunderts und bis heute wie beschrieben in gewandelter Interpretation grundlegend geändert hat.
Das Bling-Bling der Justitia mit Schwert, Waage und Augenbinde ist zudem urweiblich.
Darstellungen der Justitia sind bis auf ganz wenige Ausnahmen weiblich, und zwar mehr oder weniger bekleidet, gelegentlich gar unbekleidet, eben wie die nackte Wahrheit, ohne schützendes Gewand, das etwas verbergen könnte.
Dies ist natürlich auch symbolhaft und erklärt sich damit, dass in vielen Urvölkern Muttergottheiten angebetet wurden.
Von diesen ausgehend wurde Gerechtigkeit als ein natürlicher Zustand und damit als weiblich angesehen.
Auf den ersten Blick erweist sich die Figur der Justitia und ihrer „blingenden“ Beiwerke mithin als ebenso widersprüchlich wie universell.
Aber bei genauem Hinschauen „blingt“ uns die Darstellung der Justitia als dauerhafte Mahnung entgegen, immer wieder und unablässig nach Gerechtigkeit und menschlicher Würde zu streben, auch wenn dieses Ziel – wie die christlichen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung – kaum je in vollendeter Form zu erreichen sein wird.