An vier Tagen pro Woche kommt sie morgens, bepackt mit Tasche und Körbchen, in die Katholische Grundschule Jülich. Eltern von Schulneulingen glauben, eine Lehrerin zu sehen, wenn sie ihre Kinder in die Schule bringen. Doch bald schon werden sie von ihren eigenen Sprösslingen eines Besseren belehrt: „Das ist doch keine Lehrerin – das ist Frau Kraus!“ Mirena Kraus, Mitte 50, ist in der KGS gut bekannt und wird von allen Schülern und Lehrern geachtet. Auch wenn nicht alle unmittelbar mit ihr zu tun haben. Alle wissen jedoch: Sie bewirkt kleine Wunder. Denn Mirena Kraus nimmt sich all der Schulkinder an, die kein Deutsch sprechen und sie schafft es in relativ kurzer Zeit, dass sich ehemals fremde Kinder in der Klasse heimisch fühlen und Alltagssituationen in einer neuen Sprache meistern können. Diese Eingliederungsarbeit nehmen auch die anderen Kinder wahr – wenn nämlich ehemals stille Mitschüler mehr und mehr zu echten Klassenkameraden werden. Die Kinder sagen dann: „Ja, Frau Kraus übt ja auch immer mit denen.“ Das Besondere: Mirena Kraus betreut die Kinder hauptsächlich ehrenamtlich und das mit großer Freude und Elan. Wir konnten uns bei einem Gespräch mit ihr davon überzeugen.
HERZOG: Wie viele Kinder haben Sie derzeit unter ihren Fittichen?
Mirena Kraus: Momentan sind es 15. Bis vor kurzem habe ich die Kinder alleine betreut, inzwischen hat die KGS Unterstützung von mehreren sogenannten „SmiLe“-Sprachpaten. Zur Erklärung: „SmiLe“ ist das Sprachpaten-Projekt des Kreises Düren und steht für Sprachbildung mit individuellem Lernerfolg. Ich freue mich auf die Verstärkung.
HERZOG: Wie viel Zeit verbringen Sie mit den Kindern in der Woche?
Mirena Kraus: Wenn ich alles zusammenziehe, komme ich auf 20 Stunden an vier Tagen.
HERZOG: Und das tun Sie ehrenamtlich?
Mirena Kraus: Ja, hier an der KGS größtenteils ja, und das mache ich auch sehr gerne. Denn die meisten „meiner“ Kinder kommen aus Familien, die Hilfe aller Art benötigen und keine finanziellen Möglichkeiten haben. Sobald ein Kind mit seiner Familie irgendwo angemeldet ist, wird es schulpflichtig und dann sitzt es plötzlich in einer Klasse und versteht nichts, gar nichts! Natürlich gibt es unterschiedliche Charaktere und Begabungen, aber am Anfang brauchen alle Unterstützung. Ich weiß, wie es sich anfühlt.
HERZOG: Etwa aus eigener Erfahrung? Man hört Ihnen keinerlei Akzent an.
Mirena Kraus: Ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste (lacht) und schon lange genug hier, aber ich habe, wie die Kinder hier, die gleiche Situation erlebt und das ist auch der Grund, warum ich helfen möchte. Ich bin mit 11 aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen, direkt in die 6. Klasse geschickt worden und hatte keinen Plan. Ich war älter als die Kinder hier und dennoch war es unglaublich schwer für mich. Ich sage mir immer: „Das muss für die Kleineren ja noch heftiger sein.“ Ich hatte aber das Glück, auf eine Deutschlehrerin zu treffen, die sich akribisch um mich kümmerte und mir so in den ersten fünf Wochen die Basis für das Deutschlernen bereitete. Das werde ich nie vergessen. „Fräulein Zander“ ist sozusagen mein Vorbild (lacht). Tja, und dann hatte ich noch das Glück mit dem Unfall…
HERZOG: Sie machen Scherze?
Mirena Kraus: Ja, ich sehe das so: Ich hatte das unglaubliche Glück, dass ich für fünf Wochen ins Krankenhaus musste, da ich einen sehr komplizierten Armbruch hatte. Da lag ich nun in einem Sechs-Bett-Zimmer, teilweise auch zu acht oder neun, und alles mit deutschen Kindern. Klasse! Bei zweimaligen Besuchsmöglichkeiten am Nachmittag war ich dort förmlich einkaserniert. Als ich sozusagen wieder draußen war, haben alle in der Schule gestaunt, denn ich hatte im Krankenhaus Deutsch gelernt! Mein Interesse an der Sprache war geweckt, ich habe angefangen über ihre Phänomene nachzudenken bzw. mich zu wundern, denn eine Logik konnte ich nicht immer erkennen. Auf jeden Fall hatte ich plötzlich ein Gefühl für die Sprache und das war für mich eine enorme Erleichterung.
HERZOG: Im Endeffekt haben Sie ja im Krankenhaus damals einen Intensiv-Sprachkurs durchgeführt. Wenn auch nicht im Krankenhaus, plädieren Sie denn auch heute dafür die Kinder eine Art Intensivkurs direkt am Anfang anzubieten, um ihnen effektiv zu helfen?
Mirena Kraus: Ja, das Beste wäre in der Tat ein etwa zweimonatiger Intensiv-Sprachkurs von morgens bis abends, damit sie alle Facetten von Alltagssituationen erleben, und so sprachlich mit entsprechenden Themenpäckchen konfrontiert sind. Manche Kinder stecken ja mittags die deutsche Sprache faktisch in den Ranzen, da zuhause die Sozialsprache der Familie eben eine andere ist.
HERZOG: Sie haben nun nicht die Möglichkeit von morgens bis abends mit den Kindern deutsch zu sprechen. Wie kommen Sie denn dann zu den guten Erfolgen beim Lernen mit ihren Kindern?
Mirena Kraus: Mir ist es persönlich sehr wichtig, dass die Kinder gerne hierher kommen. Das tun sie auch ausnahmslos, das darf ich so sagen. Denn sie spüren, dass es hier um keine Noten geht, es herrscht kein üblicher Lernduktus, sondern eine reine Spielatmosphäre, die jedoch von mir sehr strukturiert entwickelt wird. Es gibt hier nur Lob, keinen Tadel, die Kinder merken auch, dass hier nicht einfach mal so „abgehangen“ wird. Wir sind je nach Stundenplan der Kinder – leider nicht nach der individuellen Notwendigkeit – entweder in kleinen Gruppen zu dritt, zu viert oder auch in Einzelstunden zusammen.
HERZOG: Wie machen Sie das denn konkret?
Mirena Kraus: Ich arbeite nach dem Programm DEMEK – die Abkürzung steht für Deutschunterricht in mehrsprachigen Klassen – das von der Bezirksregierung Köln initiiert und entwickelt wurde. Ein wesentlicher Bestandteil sind sogenannte Sprachrunden, also Rollenspiele von typisch alltäglichen Situationen, mit stets ordentlich grammatikalisch gegliedertem Satzbau. Das betrifft alle Themen des Kinderalltags, von typischen Vorstellungsrunden, „Radiergummiausleihfragen“, gemeinsames Spielen bis zu „Kann ich bitte auf die Toilette gehen?“. Dabei erkläre ich viel, korrigiere sofort, wenn etwas nicht stimmt. In der praktischen Anwendung haben die Kinder dann oft ein schnelles Erfolgserlebnis. Dann bin ich auch sehr sensibel in der Anwendung von Artikeln, denn das ist ja die Grundvoraussetzung für die späteren „Fälle“ in der deutschen Sprache. Ich könnte Ihnen noch eine Menge erzählen, was wir machen, aber ich glaube, das sprengt den Rahmen. Eine Sache ist allerdings in meinem Verhältnis zu den Kindern noch wesentlich, das ist sozusagen mein Trumpf: Sie wissen alle, dass ich auch nicht deutsch war, die Sprache dennoch gut gelernt habe und kann ihnen daher sagen: Wenn du es wirklich willst, dann schaffst du das auch!