Es ist ein Lehrstück zum Thema Medien, ohne belehrend zu sein. Entwaffnend ehrlich, auch kritisch mit der eigenen Person, entwickelt Juan Moreno, Reporter beim Renommier-Magazin „Der Spiegel“, die „Affäre Relotius“. Claas Relotius war bis 2018 sein Kollege beim „Spiegel“. Dann flog er auf: Ein Großteil der Relotius-Artikel war frei erfunden. Ein Skandal, der die Medienwelt erschütterte. Als Nestbeschmutzer und Neider wurde Moreno nach eigener Aussage beschuldigt. Moreno waren die Unstimmigkeiten des deutlich jüngeren und sehr erfolgreichen Relotius aufgefallen, als er gemeinsam mit Relotius ein Thema bearbeitete. Weil man ihm nicht glaubte, tat Moreno das, was ein Journalist eben so tut: Er recherchierte. Das Ergebnis: Ein Fass ohne Boden tat sich auf, weil Moreno nicht nur in dieser gemeinsamen Reportage auffiel, dass sein Kollege sich wohl eher als Schriftsteller denn als Reporter betätigte.
Nicht zu verschweigen sei, dass nach der Veröffentlichung des Buches der Anwalt von Relotius dem Autor Moreno vorwarf, er habe eine Figur konstruiert, und sein Buch enthalte „erhebliche Unwahrheiten und Falschdarstellungen“. Wikipedia zitiert Nachrecherchen von „Die Zeit“, derzufolge Moreno mit vielen der unmittelbar Beteiligten für sein Buch nicht gesprochen hätte. Morenos Verlag habe das Vorgehen als „Versuch, mit Randfragen und Nebenschauplätzen den Reporter Moreno zu diskreditieren“ bezeichnet.
Sei es, wie es sei. Eine Stärke des Buches ist es, dass Moreno mit Kennerblick, will man im Wortbild bleiben, das Leseverhalten der heutigen Gesellschaft widerspiegelt. Warum, so steht als große Frage hinter diesem Buch, konnte Claas Relotius mit seinen erfundenen Beiträgen, den „1000 Zeilen Lüge“, nicht nur die Redaktion täuschen, sondern auch so erfolgreich sein, dass er 19 Auszeichnungen erhielt, darunter den Österreichischen Zeitschriftenpreis, den Katholischen Medienpreis, den Peter-Scholl-Latour-Preis sowie viermal den Deutschen Reporterpreis und einen US-Reporterpreis? Morenos Erkenntnis: Die heutige Leserschaft will, dass es „menschelt“, schwierige politische und soziale Umstände durch Einzelschicksale, die ans Herz gehen, verständlich werden. All das bedienen die „Reportagen“ von Relotius.
Damit ist das Buch von Juan Moreno nicht nur die romanesk aufgearbeitete Aufdeckungsgeschichte eines Medienskandals, sondern er hält auch uns als Leserschaft den Spiegel vor. Es lohnt, darüber nachzudenken.
BUCHINFORMATiON
Juan Moreno: 1000 Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus | 288 Seiten | Rowohlt Berlin | ISBN-3737100861 | 18 Euro