Start Magazin Kunst & Design Fertig werden…

Fertig werden…

... über das Dilemma der Künstler.

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353 Kat Nr 39 Schirmer Blick auf Oberkassel und Siebengebirge BN Slg RheinRomantik
353 Kat Nr 39 Schirmer Blick auf Oberkassel und Siebengebirge BN Slg RheinRomantik
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Charly Chaplin ist in Eile. Er schaut aus dem Fenster seines Hotelzimmers, das geht auf den Bahnhof und dort hängt eine Uhr. Die Zeiger rücken vor. Aber der Koffer liegt noch geöffnet auf dem Bett und er sucht seine Sachen zusammen, um ihn zu packen. Als er den Koffer endlich verschlossen hat, schaut an den Seiten etwas heraus, hier ein Hosenbein, dort ein Ärmel. Also aufs Neue öffnen und ordnen, aus dem Fenster blicken. Der Bahnsteig füllt sich, in der Ferne Dampfwolken, die Lokomotive. Diesmal hängen die Frackschöße heraus. Der Zug fährt ein, Gedränge, der Bahnhofsvorsteher hebt die Kelle. Da nimmt Chaplin die Schere und schneidet alles Heraushängende ab. So springt er noch gerade eben auf den fahrenden Zug.

Ganz anders der Maler Andre Derain. Er war der Schrecken der Museen und man musste ihm am Ende Hausverbot erteilen. Immer wieder besuchte er seine dort ausgestellten Werke, ging eine Weile vor den Gemälden auf und ab, flanierte wie prüfend an ihnen entlang, um dann eine kleine Palette und Pinsel unter seinem Mantel hervorzuziehen und neue Lichter und Akzente in seine Arbeiten zu setzen.

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Fertig werden, das will ja eigentlich jeder. Aber dann hält man das Ergebnis in der Hand und ist enttäuscht. Jetzt ist es in der Welt. Es ist fertig, aber ich bin es nicht. Das Fertige gibt einer Welt der Prozesse Stabilität und Struktur, aber eben auch Erstarrung und Widerstand. Der Künstler spürt dieses Dilemma unmittelbar. Wie kein anderer fühlt er sich aufgerufen etwas fertig zu machen und schon sieht er sich museal und überholt.

In Aufbruchzeiten wird das besonders spürbar. Lebe schnell und sterbe früh. Ein Motto der Beat-Ära und es waren Stars wie auch Unbekannte, die da nicht fertig werden wollten und früh starben. Das war auch keine Erfindung dieser Generation. Die romantische Rebellion durchzieht die europäische Geistesgeschichte und Protagonisten wie Werther, Lenz oder Baal sind Zeitgeist und tragen die alte Botschaft in das Heutige hinein. Das und anderes haben wir im Gepäck.

Ich bin einmal vom Rheinstädtchen Zündorf südlich von Köln zum Siebengebirge gewandert und habe mich auf dem Hinweg, ganz in der Tradition der Landschaftsmalerei, auf ein unverwechselbares Gebirge zuschreiten sehen. In solchen Darstellungen werden die Stationen des Wegs deutlich gemacht. Blumenwiesen, Wildbach, der Hochwald, die Baumgrenze, Geröllfelder, über allem der Gipfel. Ein abgeschlossenes Ganzes, so als hätte die wachsende Nähe zum Ziel keinen Einfluss auf das Ziel.

Als ich losziehe, liegt das Gebirge wie ein Dreieck in der Ebene, man spürt deutlich den vulkanischen Ursprung. In der Annäherung reihen sich dann die sieben Gipfel aneinander, Drachenfels, Löwenburg, Ölberg usw. Form und Inhalt werden deckungsgleich, wie in einer Idee oder einer Reklame. Das Siebengebirge.

Nur wenig später wird das Ganze schon plastisch. Schluchten und Täler öffnen sich, Burgruinen modellieren sich aus den Felsen, Farben werden zu Wiesen und Wäldern und das Exemplarische verändert sich zum Anekdotischen. Als ich zum Flüsschen Sieg hinabsteige, dem Letzten, was mich noch vom unmittelbaren Ziel trennt, ist das Gebirge verschwunden. Ein Hügel nimmt mir die Sicht. Das ist nun die Realität. Ich schalte meine Wahrnehmungen auf Nähe und begrenzten Raum. Diese Nähe ist in der europäischen Kunst lange Zeit unbekannt. Vielleicht ein Rasenstück von Dürer. Aber das ist Renaissance, die materielle Aneignung der Welt und von der Statik eines Bestimmungsbuches. Aber das Flüsschen murmelt, der Nachmittag beginnt das Licht warm einzufärben, Halme schaukeln in der Brise, Blütenduft, alles durchdringt sich. Ich setze mich und hole die Thermoskanne aus dem Rucksack. Der Duft von Kaffee mischt sich mit Flusswasser und Blüten, ein Nachtfalter schwebt wie ein Kolibri mit rotierenden Flügelschlägen vor einer Blüte und taucht seinen Rüssel in den Kelch. Ein Idyll.

Dass die Welt ein wirbelndes und sich stets erneuerndes Etwas ist, das wissen wir erst von van Gogh. Er lernte einiges von der gerade bekannt werdenden asiatischen Malerei und übersetze Verwandtes dieser Sehweise in seine Gemälde.

Ich übersetze mir das Idyll wie mit Tusche auf einem gewässerten Papier gemalt. Die Halme des Rieds auf das Trockene, die Rispen lasse ich in der Nässe aufblühen, der Nachmittag füllt mir die Senke tiefen Schatten an. Sie sickern von überall herein, bilden Pfützen und Tümpel und die Thermoskanne ein Schimmern im Gras. Das Flüsschen wieder das reine Weiß.

Spätestens seit dem Impressionismus setzt die Auflösung des Festen ein. Geahnt wird das bereits in der Romantik, das Hinauszögern des Fertigen und die Aufweichung seiner Grenzen im Phantastischen beginnt. Von hier ab wird es fragil und bewegt und das Fragment und das Palimpsest tauchen auf. Palimpseste sind abgeschabte Pergamente, die wieder neu beschrieben werden. In der Malerei lenken die Spuren auf dem Malgrund den Pinsel in demselben Maße ab, wie der Künstler ihn zu steuern versucht. Neben das Gemalte tritt der Schimmer des Weggeschabten.

Gegen dies Zeitliche hilft der Moment, die Anbetung des Augenblicks. Fertigkeit, nicht Fertigsein. Das ist die Stunde der Virtuosen. Nicht fertig sein, unterwegs sein. Wer denkt da nicht an Eichendorffs Taugenichts? Dieser Geist setzt sich fort in van Goghs Selbstporträt: „Der Maler auf dem Weg nach Tarrascon“. Nicht nur thematisch. Der schlängelnde Duktus, das Auflösen des Lichts in reine Farben, die sich erst auf der Netzhaut zu Klängen mischen, das Unterwegssein als Selbstzweck. Das alles ist schon modern und Prozess und Anti-Idylle. Ob er den Taugenichts gelesen hat? Der britische Maler Francis Bacon zitiert das Motiv hundert Jahre danach und der Lebensweg wird ihm dabei zu einem existenzialistisches Credo. Unterwegs vom Nichts zum Nirgends.

Als ich am Ende des Tages den Rhein wiedersehe, drehe ich mich noch einmal um. Das Siebengebirge liegt wieder wie ein Dreieck auf der sich verdunkelnden Ebene, wieder ganz der große Entwurf, der mich angezogen hatte, um mich dann in die Idylle zu führen. Dieser Wechsel von großem Entwurf und Idylle, von Ausdehnen und Zusammenziehen, geht wie ein Ein- und Ausatmen durch die ganze Kunstgeschichte. Die Zertrümmerung der Form kann zwar befreien, ist aber noch keine neue Form und durch die Idylle führt uns kaum jemand, ohne ins Betuliche oder Ironische zu geraten. Wir bewegen uns durch Antagonismen, um nicht fertig zu werden.


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