Ich war achtzehn, als ich zum ersten Mal Rucksack und Gitarre nahm und mich mit meinem Freund an die Straße stellte und den Daumen raushielt. Wir hatten das Anfängerglück, ein Tanklastwagen hielt an und nahm uns bis kurz vor die Schweizer Grenze mit. Der Fahrer war zu einer badischen Winzergenossenschaft unterwegs, um seinen Tank für eine Großkellerei mit weißem Burgunder auffüllen zu lassen, der auf Flaschen gezogen werden sollte. Er war nur ein wenig älter als wir und hätte sich uns gerne angeschlossen, aber er hatte seine Familie zu ernähren. Das Glück blieb uns weiter treu und schon am Nachmittag hatten wir uns am Genfer See mit Wein, Baguette und Käse eingedeckt und überquerten schließlich in einem Citroen DS die französische Grenze. Wir rollten die Schlafsäcke auf einer von Berggipfeln gesäumten Wiese aus, futterten unser Nachtmahl und streckten uns in die sich absenkende Nacht des savoyischen Hochlandes. Der Duft des Weins mischte sich in die Abendkühle und wir sangen „on the road again“ und „tomorrow to soon is yesterday“ und prosteten dem angeleuchteten Gipfelkreuz zu. So wollten wir das auch weiter halten und stets die Straße in das Unbekannte wählen. Unser netter Fahrer steckte in einer Realität, eine Faktizität, die er zu bedienen hatte, wir dagegen hatten eine Zukunft. Er hatte sie sich verbaut, er musste sein Haus abbezahlen und so heideggerten wir noch in die blaue Nacht hinein, bis die Flasche leer war und mein Laotse kundiger Freund uns mit „der Weise hinterlässt keine Spur“ in den Schlaf entließ.
Dass wir jeden Augenblick Zukunft in Zustände verwandeln, beschäftigt unsere Spezies seit je. Die Germanen hatten für das Zeitphänomen drei Nornen, die Griechen hatten die drei Moiren, von denen die erste den Lebensfaden spann, die zweite ihn abmaß und die dritte ihn abschnitt. Dass die Zukunft bei diesem Modell einem so ganz aus den Händen genommen wird, ist nach unserem nordischen Verständnis nicht akzeptierbar. Möglicherweise rührt das von der dritten, für die Zukunft stehenden Norne her, die den Namen Skuld = Schuld trägt. Wir meinen der Zukunft etwas schuldig zu sein und legen uns in Riemen. Das mediterrane Modell ist da fatalistischer, irgendwann kommt halt das Auszählen, aber bis dahin Vino und Amore…
Da wir die Zukunft steuern möchten, wüssten wir gerne mehr darüber und nach Veranlagung wählen wir die romantischen Varianten des Handlesens oder Kartenlegens oder entscheiden uns für seriöse Prognosen, wie etwa die der fünf Wirtschaftsweisen. Da diese Gutachten aber bisher weder Fukushima, noch Immobilienblasen oder Fluchtbewegungen prognostizierten, können wir genauso gut auf den Jahrmarkt gehen.
Aber es bleibt der Wunsch einen Blick hinüber zu werfen und die alten Griechen hatten neben ihren Moiren auch noch ein Orakel und eine Pythia. Letztere beantwortete die Frage nach der Zukunft aber nicht als Aussage, sondern gab einen Rätselspruch auf, den der Fragende selbst zu lösen hatte. Wie jeder gute Therapeut aktivierte sie damit die Potentiale des Fragenden und lenkte ihn zur Innenschau und zur Erforschung des eigenen Charakters. Dieser ist der eigentliche Schlüssel zur Zukunft: wir ziehen das an, was in uns ist. Der Glückliche zieht das Glück an und der Langweilige die Langeweile usw. Daran kann man arbeiten und zum Training unserer Verfassung haben wir die unzähligen Momente des Hier und Jetzt. Doch wir sind für diesen schmalen Streifen schlecht gerüstet, da wir uns ja ständig mit der Zukunft beschäftigen, die Gegenwart nicht mögen oder zumindest herumnörgeln und noch etliche Verbesserungen wünschen. So leben wir ständig im Phantasma der Zukunft: sie ist das Gute, die Hoffnung. Die Schönheiten des Wegs und der Duft des Augenblicks bleiben auf der Strecke.
Selbst die Künste sind voll von Zukunftsneurosen und Erlösermodellen: der auferstandene Christus, die Einschiffung nach Arkadien, als dem irdischen Paradies oder die französische Marianne, die barbusig auf der Barrikade die Armen zum Glück führt. Da braucht es erst eine Reihe von Desillusionierungen, um im Hier und Jetzt anzukommen. Aber schon die kleinen Genies des Hier und Jetzt, unsere Kinder, diese ganz und gar gegenwärtigen Wesen, werden als Geiseln genommen, um mit ihnen der Zukunft Forderungen abzupressen. Motto: es soll es einmal besser haben…, die Zukunftsneurose wird weitergereicht. Von daher wohl auch das gute Einvernehmen zwischen Großeltern und Enkeln. Sie verstehen sich, da die einen keine Zukunft mehr haben und die anderen noch frei davon sind.
Dieses Verpflichten von Kindern für Zukunftszwecke hat in unserem Kulturkreis eine uralte Tradition: den Messias. Jedes Neugeborene könnte der Erlöser sein, bei dieser Erwartung ist es dann rasch vorbei mit dem Kind sein und die neutestamentarische Forderung, so ihr nicht wie die Kinder seid, werdet ihr das Himmelreich nie erlangen, fand wenig Gehör. Aber auch da geht es ja schon wieder um Zukunft: das Himmelreich ist der Großparkplatz sämtlicher Wunschvehikel, die Parkgebühr kostet das Leben. Eine Perspektive bieten uns da eher die anonymen Alkoholiker, die ihre süchtigen Mitglieder in einer realistischen Zielsetzung trainieren: den heutigen Tag trocken bleiben.
Die Figuren des Hier und Jetzt sind somit selten, Eichendorffs Taugenichts, der Papageno der Zauberflöte, aber die sind ja Musiker und die leben ohnehin in Vierteln und Sechzehnteln und haben es geübt, kleinste Zeitabschnitte als Musik und Tanz zu gestalten. Sie haben den Groove und die Zukunft ist nur ein Gedanke. In der Kunst müssen Gedanken bildhaft werden, wenn sie erlebbar sein sollen und dann erfindet man ein Sinnbild, eine Metapher. Gängige Metaphern für Zukunft sind das Kind oder auch der sich in der Ferne verlierende Weg und auf diesem wanderten wir am nächsten Tag dem Mittelmeer entgegen. Dieses Savoyen war einfach zu schön, um es mit dem Auto zu durcheilen.