Als ich diese Geschichte von den überklebten Plakatwänden hörte, die er zu seinen Leinwänden machte und die New Yorker U-Bahnhöfe zu seinem Atelier wurden, da habe ich mir diese Plakatwände weiß gedacht. Doch ausschlaggebend war es wohl, dass sie schwarz gewesen sind. Tunnelgroße und schwarz überklebte Plakatwände, die nicht vermietet worden waren und vor denen sich das Publikum bereits eingefunden hatte, das ihm Inspiration und Motivation sein sollte: ebenfalls schwarz und mit wenig Aussicht auf eine Verwendung.
Keith Haring hatte die Rolltreppe zu einem Bahnsteig in Downtown genommen, als er unten diese leeren Plakatwände registrierte. Wände so groß und schwarz wie die U-Bahntunnel, in denen sich der Glanz der Gleise nach wenigen Metern im Dunkel verlor und all dieses Lichtlose um ihn herum sich zusammen mit den neontrüben Gesichtern der Wartenden zu einer geradezu metaphysischen Düsternis verdichtete.
Unverarbeitetes, ins Unterbewusste verdrängt und eingelagert, hatte sich dort zur kritischen Masse angereichert und diese Kettenreaktion von sich stetig potenzierenden Dunkelheiten ausgelöst, die sich über das Einfahren der Züge, das Flimmern der Lichterketten und Hochhäuser legten. Das quoll aus den Tunneln, schwappte über die Bahnsteige, kam die Treppen herab, senkte sich vom Himmel, färbte die Gesichter, ein Tsunami von Schwärze und in der Panik des überflutet Werdens stiegen die Stressoren auf und mit ihnen diese Bilder, die wir von ihm kennen. Weiße Linien auf schwarzem Grund, Phantasien von Empathie und Miteinander, Regressionen ins Paradies und ein Aufbäumen gegen die einströmende Finsternis.
Als es vorbei war, ist er wieder in die Straßen hi-nauf. Er hat weiße Kreide gekauft, um diese Bilder vom Miteinander und Verstehen, dieses Credo eines Wir sind auf das Schwarz der Plakatwände zu bringen. Auf youtube kann man sehen, wie er das zeichnet. Das sind keine trainierten Kunststückchen sondern Findungen, ein ornamentales Wuchern von vegetativer Bestimmtheit, an dem nichts zurückgeschnitten werden muss. Symbole, die unmittelbar verständlich auf seine Gemeinde abzielen und mehr noch, sich diese Gemeinde geradezu schaffen. Ein Mensch, der eine Brücke schlägt, über die kleinere Menschen ans andere Ufer gelangen können, die Auslöschung der Kreativität im TV Schädel, Delphine in einer fliegenden Untertasse über den Pyramiden. Geistesblitze, die durch das Dunkel zucken. Er nimmt Kreide oder Pinsel, kommt in den Fluss, aus einer Linie zweigt die nächste ab, eine Idee gibt die andere. Die Bilder sind vorbewusst, wie vieles an uns, das ins Außen drängt und das noch aus den Savannen stammt, in denen wir uns mit Lendenschurz und Speer in einer ersten Jagdgemeinschaft einen Vorteil in der Nahrungsmittelkonkurrenz zu sichern suchten. Doch die Individuationsschübe der Historie zeigen, wohin die Richtung geht, auch wenn es uns noch nicht immer gelingen uns ganz zu leben und wir auf dem halben Wege zu uns stecken bleiben. Wir sind uns unseres Ich bin noch nicht sicher und so halten wir uns an das Wir sind. Und das kann auch durchaus ein Fest sein.
Der katholische Weltjugendtag oder der Austragung der Fußball WM waren so ein Fest des Wir sind und die Straßen der Kölner Innenstadt waren ganz von ausgelassenen Gesichtern überzogen. Ein Kirschblütenfest von milchweißer Haut und rosigem Teint, bedeckt mit Kreuzen oder Landesfarben und das summte und brummte in hoher Stimmung wie schwärmende Bienen an einer Königin. Nun ist eine Blüte immer das Hinsehen wert und die weichen Hügel und Täler des Fettgewebes auf Wangen und Jochbein rundeten die Eckigkeit des Kreuzes und das Rosige des Teints bettete die Schwere der Landesfarben aus Rot und Gold mit diesem schwarzen Deckel darauf ins Kuschelige. Das wärmende, schwärmende Wir-Gefühl, dieser kurze Blütentraum erfüllte die Stadt und mit ihm das Umtriebige, das Summen und Honig saugen, das die Melodie solch eines Schwärmens ist.
Im Gegensatz dazu ist die Kunst eher eine Domäne des Ich, des Individuums, des Einzelgängers. Seltsamerweise wirken aber deren Bemühungen in die Gemeinschaft zurück, fast in jeder Schule hängen van Goghs Sonnenblumen oder die Tierbilder von Marc. Doch auch Künstlergruppen sind nicht untypisch, wir kennen Der blaue Reiter, Die Brücke, Die Fauves. Das vereint und trennt sich, die Individualität wird zur Last, man sucht das Wir, sehnt sich nach Austausch und Gemeinschaft, nur um sich bald darauf wieder zu entzweien.
Van Gogh mietet ein kleines Haus in Arles, streicht ein Zimmer in Gauguins Lieblingsfarbe, richtet es ein und schickt ein Gemälde davon mit der Einladung zum gemeinsamen Arbeiten und Wohnen nach Paris. Doch kaum ist Gauguin in Arles angekommen, geht van Gogh mit dem Messer auf ihn los. Der Drang nach Gemeinschaft scheint genauso unüberwindlich zu sein wie der Rückzug in das Ich. Sich als Nackter in einer Menge von Angezogenen zu befinden, ist einer der gängigen Alpträume und er gibt ein treffendes Bild vom Ich bin und warum wir lieber das Wir sind suchen. Dort sind wir weniger sichtbar, doch was tun wir andererseits nicht alles, um sichtbar sein?
Mein persönliches Wir hatte ich 68 in Nizza. Der große rote Punkt an der Frontscheibe der PKWs – ich nehme Tramper mit- brachte mich in wenigen Tagen an das Mittelmeer, wo die berühmte Engelsbucht mit Schlafsäcken, Gitarrenklängen und schwerem Rauch angefüllt war. Eine Gemeinde, die nicht gern gesehen wurde und jede Nacht erschienen an den Aufgängen der steilen Promenadenmauer die blauen Polizeitransporter aus Wellblech und Flics riegelten die Treppen ab, um einzusammeln und einzubuchten, wessen sie habhaft werden konnten. Von uns retteten Räuberleitern und helfende Hände, wer zu retten war und die Flucht ging in das Dunkel der angrenzenden Parks, wo wir wieder zusammen fanden. Und obwohl ich im Allgemeinen ein aus Gemeinden Flüchtender bin, hat mir dieses Wir sind den Geschmack eines Wir-Gefühls gegeben, an das ich mich gerne und vermutlich idealisierend zurück erinnere und dessen Geist mir in Keith Harings Bildern noch einmal nachhallte.