Süß. Wir lieben es süß. Damit stehen wir nicht allein. Tiere lieben es auch süß. Der Bär den Honig, die Stare die Kirschen, der Igel das Fallobst. Vor allem die Äpfel, wenn sie schon leicht vergoren sind, dann gibt es noch einen Rausch dazu. Auch Friedrich Schiller liebte solche Äpfel, einen Weinkeller wie Goethe konnte er sich nicht leisten. Aber der Kaffee musste sein, um das Dichterhirn tief in das Dunkel der Nacht zu treiben. In die Tageszeit so wie in die metaphysische Nacht.
Der Igel ist auch nachtaktiv. Man hört ihn im Dunkeln schmatzen, dann trollt es sich davon. Die metaphysische Nacht kennt er nicht. Das Süße schmeckt ihm, aber es tröstet nicht. Der Igel braucht keinen Trost, weil er keine Phantasie hat.
Süß entsteht im Gehirn, sowohl als Geschmack wie auch als Wunsch und beide potenzieren sich potentiell ins Unendliche. Wir geben unserem Affen Zucker, wie man so sagt. In Asien fängt man Affen in einem Kasten mit etwas Süßem und einer Öffnung darin, damit das Süße zu sehen ist und der Affe langt hinein. Um die Hand aus der Öffnung wieder heraus-zubekommen, müsste er nur loslassen.
Der Philosoph Ernst Bloch hat sich in seinem Werk „Das Prinzip Hoffnung“ mit unseren süßen Phantasien beschäftigt und uns ein Panoptikum unserer Wünsche gezeichnet. Es wurde ein 3-bändiges Opus. „Der Garten der Lüste“, wie Hieronymus Bosch es nannte. Ein Irrgarten mit unzähligen Pavillons, Orangerien, labyrinthisch gewundenen Gängen, tief hinein in das Dunkel unserer metaphysischen Nacht und ihren Tröstungen.
Ich gehe einen Gang hinunter und drücke eine Klinke. Nackt und bäuchlings räkelt sich Miss´ O Murphy, die 15jährige Mätresse von Ludwig XV, in den Kissen. Das ist süß und das sollte es auch sein. Sie besaß aber nicht das Monopol auf Süße und so konkurrierte sie mit Madame Pompadour um die Gunst des Monarchen. Auch diese wurde vom selben Francois Boucher gemalt, aber nicht nackt, sondern hochgeschlossen. Den Fächer gebieterisch in der Rechten erzählt sie von einer anderen Süße, die es zu schmecken gebe. Die Süße der Macht. Auch diese füllt Gänge und Säle mit Pauken und Trompeten, Heerführern und Regenten. Ein Großinquisitor hält ein Bittgesuch zwischen zwei Fingern. Er blickt kalt, wird er es fallen lassen?
Das Süße und das Verbotene, die Kirschen aus Nachbars Garten, der Apfel des Sündenfalls. Die Venus von Tizian liegt wie eine geschälte Frucht auf den Kissen. Die kleine Hand bedeckt die Scham, genau so gut weist sie darauf hin. „Die nackte Maja“ von Goya bedeckt ganz und gar nichts mehr und hält die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Das brachte den Maler vor die Inquisition.
Süß entsteht im Gehirn. Putten, posierende Familienclans, heimatliche Landschaften, junge Hunde, das alles kann uns süß sein. Der Hirsch an der Höhlenwand will Sättigung, Kleidung, eine Venus von Willendorf Nachwuchs, konkrete Lebensmittel. Eine Venus von Tizian oder die nackte Maja sind nur noch reine Süße und Droge. Aber es sind auch Beschwörungen, magische Handlungen und sie zielen auf Macht. Letztlich die Allmacht, denn Sucht und Süße kennen kein Maß und nach Nietzsche will jede Lust natürlich nichts weniger als Ewigkeit. Ich tappe weiter im Labyrinth und drücke eine Klinke.
Der Saal der Stillleben, die guten Dinge des Lebens. Üppige Bouquets, Weine und Liköre in geschliffenen Flakons, Früchte und Gebäck auf Zinntellern, raffiniert arrangiert, Objekte der Lust, wie die nackten Mätressen. Auf dem Fleisch einer Auster hockt eine Schmeißfliege, davor eine schwärende Erdbeere.
Die metaphysische Nacht unseres Gehirns produziert nicht nur süße Phantasien, sie produziert auch innere Stimmen von Schuld und Reue. Wir hören sie flüstern, süß macht Karies, dick und unsportlich. Der Weg nach unten ist süß. Es wird schwül. Irgendwo im Halbdunkel dieser Galerien lauern auch geröstete Märtyrer, stigmatisierte Eremiten, ausgemergelte Büßer und alle Sorten von Drachentötern. Jedes Defizit hat seine eigene Süßigkeit. Die metaphysische Nacht ist ein Spiegelsaal, ich bin gewarnt, ich werde mir selbst begegnen. Ich drücke eine Klinke.
Ein Mann liegt im Bett unter einem Regenschirm. Das Dach ist nicht dicht und er dichtet. Aber nicht das Dach, sondern Poesie. Mit der Linken das Versmaß skandierend, in der Rechten die Feder zum Schreiben bereit. Carl Spitzweg: „Der arme Poet“. Das ist irgendwie süß und auch ein wenig lächerlich. Nicht weit davon Charly Chaplin, auch auf süß getrimmt: dunkle Locken, große Augen, das Bärtchen und der Watschelgang. In der Goldgräberstadt gibt es nichts mehr zu essen und so serviert er seinen gekochten Schuh, er gießt noch von der Brühe darüber, die Schnürsenkel dreht er mit der Gabel wie Spaghetti auf. Wir lachen beinah gegen unseren Willen. Die Irritation ist gewollt. Chaplin und der arme Poet rühren uns an, sie sind süß. Süß, unbeholfen, schutzlos. Sie sind wie wir. Aber so wollen wir nicht sein, also rasch etwas Süßes. Doch der Narr hält uns seinen Spiegel vor, den berühmten Eulenspiegel.
Der Narr ist eine Figur in vielen Kulturen. Der Hans im Glück, der Schalk, der Trickser. Er bringt uns zum Lachen, das die gleichen Glückshormone ausstößt wie das Süße.
Die Freude des Lautenspielers von Frans Hals kommt aus ihm selbst. Da ist nicht die Süße des Ruhmes, keine Musikarena, keine Kameras. Allein der Mensch, seine Stimme, das Instrument, die Freude. Wahrhaftig, was für ein Narr.
Er ist nicht süchtig nach Ersatzstoffen. Er verkörpert den Türspruch, den man im Bayerischen gern in den Querbalken schnitzte: Ich weiß nicht, warum ich fröhlich bin. Die grundlose Freude. Der Narr ist das Methadon des Süßen.