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Alles klar, Herr Kommissar?

Filmriss und Legendenbildung

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Filmriss und Legendenbildung | Foto: HZG
Filmriss und Legendenbildung | Foto: HZG
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Die Schublade fällt heraus. Auf dem Fußboden ein rosafarbenes Band, eine Feder vom Eichelhäher, ausländische Münzen, eine Abrisskarte usw. Die Knopfkiste des Gewesenen, im Vorübergehen gelebt, gesammelt, abgelegt und vergessen.  Wenn dann mal die Schublade herausfällt und sich das über den Boden verteilt, versucht man das wieder zu einem Bild zu fügen und sich zu erinnern. „Es war einmal…“, so fangen alle Märchen an.

Eine Tageskarte Schwimmbad Attendorn, ein Seeigelpanzer vom Rosengranit gebrochen, ein Schlumpf aus dem Kaugummiautomaten, Einwurf ein Groschen…  Souvenirs, Lebenszeit durch den Wolf gedreht.  Im Rausch des Augenblicks Häppchen davon herausgerissen, denn für ein Leben am Stück haben wir weder die Zähne noch den Magen. Das schaffen wir nicht einmal dort, wo es angesagt wäre: auf der Autobahn auf einmal die Ausfahrt Düren vor mir. Was, wieso jetzt schon, den Blinker setzen, die hätte ich fast verpennt, wo war ich denn nur die ganze Zeit? Der ganz normale Filmriss. Absenzen, ich war hier und war auch woanders, alles klar, Herr Kommissar?

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Der Doppelgänger ist ein in vielen Kulturen zu findendes Motiv. Wir sind nicht immer ganz bei uns, aber wir hinterlassen Spuren, die unsere Täterschaft belegen, die Asservatenkammer unseres ungelösten Falls. So ein Kabinett hat seine Magie. Schon als Kinder kletterten wir gerne auf die Speicher hinauf, gestikulierten vor dem Kippspiegel in Pelzen und Hüten, die uns zu groß waren. Sein Leben auf einen Faden ziehen, die Perlen der Erinnerung, das ist ein schönes Bild. Aber eher wird es als Gehacktes in einen Darm gestopft, gepökelt und in Form gebracht. Beliebte Hüllen sind z. B. Familie, Karriere, Besitz – Naturdarm – oder Kreatives wie Malen, Schreiben, Filmen –Kunstdarm. Letztlich ist das Wurst. Ein ganzes, kontinuierliches Leben gibt es nur vegetativ, damit gehen wir zum Frisör. Psychologisch wechseln wir laufend die Ebenen, träumen hinzu und streichen weg. Biografien sind Romane, die es nicht zur Veröffentlichung gebracht haben. Wir erfinden uns. Wenn das so ist, könnte man sich doch auch anders erfinden. In der Kunst ist das allemal so üblich, da wird geglättet, stilisiert und poliert. Da werden Anekdoten aufgeblasen und Legendenbildung betrieben oder Niederlagen zu Siegen umgedeutet. Andere Biografien wieder sind so unwahrscheinlich, dass man sie für Phantasien halten möchte.

Etwa Max Beckmann. Zu Anfang ist er noch Impressionist gewesen, er malt den Duft des Augenblicks. Sein Selbstbildnis in der Villa Massimo, zu dieser Zeit beschimpft er die Expressionisten tatsächlich als Plakatmaler. Aber schon im Doppelbildnis mit seiner Braut geht so ein gar nicht impressionistischer und drohender Riss durch das gemalte Paar. Sind das nur Ahnungen, oder ist das schon ein erstes Planen oder gar der Vorsatz des Aufbruchs oder Ausbruchs? 1915 Bildnis als Sanitätsgefreiter, dann Nervenzusammenbruch an der Front und das Malen reißt für Jahre ab. Stattdessen wird Metall in Metall getrieben, der Stechbeitel ins Holz geschlagen und die Bilder auf Schwarz-Weiß reduziert, um den Inhalt der herabgestürzten Schublade zu sichten. Der berühmte Konturstrich, mit dem er seine spätere, berühmte Farbigkeit auf diese Inhalte nagelt, die ihn nicht mehr loslassen werden. 

Dann ein Neustart, Heirat mit Quappi, internationale Erfolge, Professur am Städel, seine Entlassung durch die Nazis und die Schmähung seiner Werke in der Ausstellung „Entartete Kunst“, Flucht nach Amsterdam. Untertauchen, Kriegsjahre, Hunger, Kälte, Bomben. Dann endlich 1947 vermerkt er im Tagebuch: „Über der Reling im feuchten Nebel  die verhangenen Riesen vom Manhattan“, Amerika, die letzte Station. Das alles festgehalten von diesem brutalen Strich, mit dem er Ordnung in sein zerstückeltes Leben zu bringen versucht, Deutung und mehr noch, Bedeutung. Striche wie Bleiruten, um die bunten Fenster des Erlebens zusammen zu halten, aber jedes dieser Bilder zerbricht wieder in unzählige, kaleidoskopische Bildesbilder. Biografische Hologramme gibt es nicht. Unser Alibi bleibt zwischen angestrengter Aufmerksamkeit und tiefen Absenzen lückenhaft. Wir sind Doppelgänger zwischen linker und rechter Hirnhälfte und zwischen Sein und Werden. In der Kunst können wir für Momente vollständig werden, die Musik überwindet die Hirnschranke. Im Tanz sind wir ganz. Reißt er ab, stürzen wir wieder in die Spaltung.

Das Thema spaltet auch die Geister und die Positionen heißen in etwa: Ein Leben, das nicht erforscht wird, ist es nicht wert gelebt zu werden. Kontra: In einem Leben, das nicht gelebt wird, gibt es nichts zu erforschen. Das sind natürlich müßige Kontroversen: Wir erfinden uns, aber wir sind auch das Büschel Haare auf dem Boden des Frisörsalons. Wir hinterlassen Spuren, aber das ist noch keine Spur. Nicht bewerten, sagen die Buddhisten, das Haarbüschel ist ihnen so wichtig wie die Gedanken darüber und natürlich zupfe jetzt ich an meinen Brauen, weil mir gerade wieder mal nichts einfällt und ich im Text stecken bleibe. Oder ich bekomme Hunger. Die Flucht in das Vegetative, diese Jahrmillionen Evolution, bevor dann die Gedanken einsetzen, um mir mein Leben als Gehacktes zu produzieren, für das ich dann eine Form suche. Seltsamerweise wird unsere Erinnerung immer dort eindringlich, wo wir einmal so etwas wie ganz gewesen sind, beim Nacherleben von Glück oder Furcht. Wir sollen nicht bewerten, aber das Alter Ego in uns, dieser Doppelgänger, hat das bereits getan. Er will den Tanz, die Ekstase.

Eines der letzten Bilder von Max Beckmann zeigt eine männliche Figur, die zwischen brennenden Häuserschluchten in die Tiefe stürzt. Oder tanzt sie? Ein Mann fällt aus allen Wolken, wo wird er ankommen? Auf dem Rad des Lebens links im Bild, auf das wir nach buddhistischer Lehre alle geflochten sind oder in Arkadien? In der Tiefe sehen wir geflügelte Menschen in Booten, geflügelte Fische, Vögel und Blumen. Der Inhalt der Schublade wird zur Kette auf den Faden gezogen, welche Bilder wählen wir, welche verwerfen wir. Wenn wir uns ohnehin erfinden, dann könnten wir uns doch auch anders erfinden.


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