„Jungfernweg – Volltreffer – alle tot – Hanni – Krefeld Goethestraße 104 – 24. Juni 1943“
Meine Damen und Herren,
mit diesen wenigen Worten teilte meine Großtante in diesem Telegramm ihrem Schwager mit, dass seine Mutter, seine Schwester und sein Schwager beim Bombenangriff auf Krefeld in der Nacht zum 22. Juni 1943 in ihrem Haus im Jungfernweg ums Leben gekommen sind. Bei diesen Opfern handelte es sich um meine Großeltern, die Eltern meiner Mutter. Sie selbst hatte Glück, sie war nicht daheim, sondern an ihrem Studienort in Freiburg.
Opfer eines alliierten Luftangriffs, Opfer eines „Moral bombing“ von Bomber Harris? Meine Damen und Herren, so verkürzt kann man Geschichte nicht zu verstehen versuchen. Ja – sie sind Opfer eines alliierten Luftangriffs geworden. Aber sie sind insbesondere Opfer eines von Deutschland initiierten Angriffskrieges eines verbrecherischen Regimes, eines Führers, dem die Deutschen in ihrer breiten Mehrheit bedingungslos folgten.
Aber – meine Mutter erzählte auch eine andere Geschichte. Anfang der 40-er Jahre kam mein Großvater aus seiner Praxis im selben Haus – eben im Jungfernweg – und berichtete erschüttert über ein Gespräch, das er gerade mit einem alten Patienten geführt hätte. Er hätte ihm hoch und heilig versprechen müssen, mit niemandem darüber zu reden. Das tat er dann auch nicht. Aber er sagte nur: „Ich habe so etwas Fürchterliches erzählt bekommen, wenn das stimmt, dann Gnade uns Gott.“ Dem Wunsch nach Gnade geht eine Schuld voraus, derer sich mein Großvater in diesem Gespräch wohl bewusst geworden ist. Schuld daran – in welcher Form auch immer – dass er sich – wie das ganze Deutsche Volk – einem Verbrecher und seinen willigen Helfern ausgeliefert hat. Vielleicht auch nur, weil er als Zentrums-Wähler Männern seine Stimme gegeben hat, die 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben.
Opfer und Schuldiger – wir können froh sein, dass die allermeisten hier in der Schlosskapelle, das Glück hatten, erst nach diesem Krieg diese Welt betreten zu haben – und damit die Grauen der Bombennächte nicht erdulden mussten und auch nicht in die Not kamen, sich in dieser Zeit der Diktatur positionieren zu müssen. Damals wie heute waren und sind die mutigen Frauen und Männer rar gesät. Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass ich, wenn ich so in mich hineinhorche, dazu gehört hätte. Umso wachsamer sollten wir heute wenigstens sein, wenn Menschen, die für Demokratie, Pluralismus, Meinungsfreiheit und gegen Rassismus und gegen engstirnigen Nationalismus eintreten, Polizeischutz beantragen müssen. Und es bedarf heute – vielleicht noch – keines Mutes, gegen diejenigen aufzu- stehen, die den Nationalsozialismus als „nur einen Fliegenschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ bewerten. Nur – hat dieser Fliegenschiss über 60 Millionen Menschen das Leben gekostet – wie eben auch meinen Großeltern. Kann man so mit dem Schicksal von Millionen Menschen umgehen?
Europa – unser heutiges Europa ist das größte Friedensprojekt, das unser Kontinent je gesehen hat. Unsere Urgroßväter, unsere Großväter und unsere Väter – sie schossen noch aufeinander. Und wir – wir leben seit über 70 Jahren in Frieden miteinander. Für unsere Kinder sind Grenzen in Europa unbekannt! Unsere Tochter hat in Deutschland, Belgien, Schottland und der Schweiz studiert. Sie hat Freundinnen und Freunde in ganze Europa. Das ist doch ein unschätzbarer Wert an sich! Und wenn uns das Geld kostet und wir als Nettozahler in diese Union investieren – es kann doch keine bessere Geldanlage geben als in den Frieden!
Aber, was ist die Realität? Die Menschen laufen zunehmend denen hinterher, die Nationalismus, Unilateralismus, Rassenhass, Intoleranz und Kompromisslosigkeit predigen, die sich an Meinungsfreiheit und Rechtstaatlichkeit vergreifen. Damit legen sie die Säge an den Baum der europäischen Friedensunion! Denn es ist nicht schwer vorauszusagen, dass wenn diese Union an diesen Strömungen zerbricht, unsere Enkel in 20 Jahren wieder aufeinander schießen werden!
Es spricht ja für das politische Engagement der jungen Generation, dass sie sich über den von Menschen herbeigeführten Klimawandel Sorgen machen. Aber wenn sie sich schon über ihre Zukunft Sorgen machen, dann müssten diese auch dem friedlichen Zusammenleben der Menschen gelten. Wir erleben derzeit eine Phase der Aufkündigung von nuklearen Abrüstungsverträgen, die uns mit dem Thema nukleare Mittelstreckenraketen gerade in Europa besonders betreffen. Soll es uns beruhigen, wenn in den Vorwarnzeiten von wenigen Minuten in Zukunft Computer die Entscheidung treffen sollen, ob es sich bei dem gemeldeten Vorkommnis nun um einen Angriff oder eine gerade unglückliche Sonnenblendung der Beobachtungssatelliten handelt? Dann wäre die Welt bereits am 26. September 1983 untergegangen. An diesem Tag entschloss sich der sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow dazu, einen von seinen Computern gemeldeten amerikanischen Erstschlag für einen Irrtum seiner Beobachtungssatelliten zu halten – womit er dann Recht hatte. Nur die sowjetische Führung hatte damals 28 Minuten Zeit, sich zu einer nuklearen Antwort zu entscheiden. Bei nuklearen Mittelstreckenraketen sind es letztlich wenige Augenblicke.
Was mich wundert, meine Damen und Herren, ist nicht so sehr, dass sich da kein Jugendlicher echauffiert. Sie spiegeln letztlich auch nur das Medienecho wieder. Nein, mich wundert, dass es eben dieses Medien- und auch Politikecho gar nicht zu geben scheint. Die Themen Rüstungspolitik, Abrüstung, Verteidigungspolitik, NATO-Strategie finden in der Politik und in den Medien in meinen Augen viel zu wenig bis fast keine Beachtung. Nimmt eigentlich irgendjemand davon Notiz, dass die symbolische Atomkriegsuhr des „Bulletin of the Atomic Scientists“ zum ersten Mal seit 1953 wieder auf 2 Minuten vor 12 steht? 1991 waren es mal 17 Minuten!
Gewiss sind die Probleme und Herausforderungen der internationalen Beziehungen mit dem Begriff „komplex“ noch zurückhaltend beschrieben. Ich neige auch nicht zu kritikloem Pazifismus. Doch gerade am heutigen Volkstrauertag zum Gedenken an die Gefallenen zweier Weltkriege und die Opfer des Nationalsozialismus sollten wir uns die Frage um die Sicherheit unserer Friedensordnung stellen. Es kann so schnell alles verloren gehen, was mühsam erreicht worden ist. So hat der deutsche Außenminister Gustav Stresemann zusammen mit seinem französischen Kollegen Aristide Briand 1926 für die friedliche Einbindung der neuen deutschen Republik in das europäische Staatengefüge den Friedensnobelpreis erhalten. Alle Völker hofften nun auf eine friedliche Zukunft. Sieben Jahre später hat Hitler sein Ermächtigungsgesetz durch den Reichstag gebracht.
Meine Damen und Herren, nicht nur unsere Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger haben für diese Folgen des Versagens der demokratischen Parteien einen hohen Preis bezahlt. Wir sind aufgerufen, allen Entwicklungen in diese Richtung entschieden entgegenzutreten. 1945, als die ersten Jülicherinnen und Jülicher in ihre ausradierte Stadt zurückkehrten, hatten sie wahrlich allen Grund, aus ihrem Elend heraus pessimistisch in die Zukunft zu schauen. Aber sie packten an und bauten ihre Stadt in nur 10 Jahren wieder auf.
Wir heute – wir leben in Frieden und Überfluss, wir haben allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Aber wir sollten uns der Gefahren einer immer komplexer werdenden nationalen wie internationalen Politik bewusst sein, wachsam bleiben und uns deutlich zu Wort melden, um nicht wie Schlafwandler in neues Unglück zu stürzen.
Zum Beitrag Jülichs Zerstörung nicht „schicksalhaft“