Start Magazin Geschichte/n „Moralische Entrüstung ist keine historische Kategorie“

„Moralische Entrüstung ist keine historische Kategorie“

Vor einer Woche wurde der Zerstörung der Innenstädte von Düren, Jülich und Heinsberg gedacht. Zeitzeugen gibt es nur noch wenige, wie auch Bürgermeister Axel Fuchs in seiner Ansprache noch einmal formulierte. Wie können Erinnerung und Mahnung noch funktionieren? Ein Gespräch mit Guido von Büren.

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Mahnmal zum Gedenken an die Zerstörung Jülichs am 16. November 1944. Foto: Dorothée Schenk
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Unter dem Decknamen „Operation Queen“ starteten die US Air Force und die Royal Air Force den größten strategischen Luftangriff des Zweiten Weltkriegs zur Unterstützung der Bodentruppen. Tausende Bomber waren im Einsatz, die ersten Bomben fielen über dem Gebiet von Eschweiler, Weisweiler, Lagerwehe, Dürwiss und Hehlrath, auch Linnich, Aldenhoven und weitere Ziele wurden angegriffen. Hauptziel des Tages war die möglichst vollständige Zerstörung von Düren, Jülich und Heinsberg, um Straßenverbindungen und den Nachschub für die deutsche Front zu unterbrechen. Der Historiker Guido von Büren, Mitherausgeber des Buches „Zwischen ‚Führer‘ und Freiheit. Bombenkrieg und ‚Befreiung‘ an der Rur“, spricht im Interview darüber, warum Krieg und Zerstörung nur selten aus heiterem Himmel kommen – und wie Erinnerung und Mahnung in Zukunft ohne Zeitzeugen funktionieren können.

Viele Berichte über die Zerstörung sind oft eine Aneinanderreihung von Fakten. X Bomber haben X Tonnen Bomben abgeworfen, X Prozent der Innenstädte zerstört und X Menschen getötet. Können nachkommende Generationen damit etwas anfangen?
Guido von Büren: Eine reine Aneinanderreihung ist in dieser Dimension nicht mehr greifbar. Wir haben dieses Thema mit Schülerinnen und Schülern diskutiert und zurückgerechnet: Kein Großelternteil kommt noch aus der Kriegsgeneration. Einerseits wächst sich die direkte Vermittlung von Erfahrung heraus, andererseits kann man auch drei Generationen später noch eine gewisse Betroffenheit feststellen. Je größer die historische Distanz, desto schwieriger wird aber der Zugang über die persönliche Betroffenheit. Generell wächst sich auch der Bedarf heraus, offiziell einen Rahmen für das Gedenken herzustellen.

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Meinen Sie damit die Programme mit Glockengeläut, Mahnwache und Kranzniederlegung?
Guido von Büren: Lange Zeit galt es, ein Bedürfnis in der Gesellschaft zu stillen. Für direkt und indirekt Betroffene war es wichtig, dass die Gesellschaft dieses Datum wahrnimmt, dass auf die eigenen Verlust- und Schmerzerfahrung Rücksicht genommen wird. Diese ritualisierte Rücksichtnahme sollten wir aber nicht mehr pflegen. Es gibt fast keine direkt Betroffenen mehr, wohl aber besteht die Gefahr, dass nachfolgende Generationen in einen Betroffenheitsmodus fallen.

Guido von Büren. Foto: Tom Besselmann

Gibt es Veränderungen mit Blick auf die Frage, was fast 90 Jahre danach erinnerungswürdig ist?
Guido von Büren: In der Nachkriegszeit war es ein Bedürfnis, die Trauer über den Verlust und die Zerstörung in Worte zu fassen und zu rahmen. Es springt aber zu kurz, nur diese Ereignisse in den Mittelpunkt zu stellen. So entwickelte sich das Narrativ, dass ohne den Nationalsozialismus und die NS-Verbrechen diese Zerstörung nicht zu verstehen ist, denn sie kam nicht aus heiterem Himmel. Dieses Narrativ wurde aus der historisch-politischen Bildungsarbeit heraus entwickelt. In einer Rede zum 16. November 1944 kann es sinnvoll sein, einen Bogen zum 9. November 1938, zur sogenannten Pogromnacht, zu spannen. Aber ich muss aufpassen, keine Setzungen zu machen, dass beispielsweise der 16. November ohne den 9. November nicht denkbar wäre. Die Vorgeschichte dieser Angriffe reduziert sich nicht auf einen Tag – gleichwohl können und sollten wir den 9. November 1938 als Teil der Vorgeschichte mitdenken.

Was meinen Sie mit Narrativ?
Guido von Büren: Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung. Und Narrative werden geschaffen. Als Historiker muss ich grundsätzlich einmal sagen: Es gibt keine Geschichte. Geschichte gibt es nur, weil wir sie erzählen. Und indem wir sie erzählen, schaffen wir sie auch. Das ist die große Herausforderung, die große Verantwortung eines Historikers. Auch wenn ich neutral berichte, konstruiere ich etwas und erziele im Zweifel eine Wirkung. Es gibt einen historischen Kern von Wahrheit, aber Geschichtsschreibung ist immer auch zeitabhängig, quellenabhängig. Schon Pilatus hat Jesus gefragt: „Was ist Wahrheit?“. Die historische Wahrheit der Zerstörung von Düren und Jülich ist ein Fakt. Da reicht der Blick aus dem Fenster. Aber die Geschichte der Zerstörung fängt viel früher an. Wir müssen den Mut haben, einen Bogen zur jüngeren Generation zu schlagen, die anders sozialisiert ist, allein durch ihre eigene Lebenswirklichkeit andere Schwerpunkte setzt. Auch ein Thema wie den 16. November 1944 kann ich nicht scheuklappenartig betrachten und immer weiter replizieren, was die Altvorderen gesagt haben. Das ist eine Engführung, die der jetzigen Generation nicht gerecht wird.

Wie können heute die Kriegszerstörungen und deren Hintergründe vermittelt werden?
Guido von Büren: Wir setzen auf Erinnerungsorte, Mahnmale. Die Aussage eines Schülers hat es auf den Punkt gebracht hat: Das Denkmal der Zerstörung ist Düren, so wie es heute ist. Wenn es die Zerstörung nicht gegeben hätte, stünde die gotische Annakirche noch dort. Was wir heute als Stadtbild vor Augen haben, ist nur denkbar vor dem Hintergrund der Zerstörung. Wir haben ein Ereignis, einen Hintergrund, den Wiederaufbau. Unsere Aufgabe ist es, einen Wissensbestand zu schaffen, der eine Einordnung ermöglicht. Der es nachfolgenden Generationen ermöglicht, selbst Schlüsse daraus ziehen. „Nie wieder Krieg, nie wieder Nationalsozialismus“ – das ist alles richtig, das kann man alles plakatieren. Aber der Historiker sollte dies nicht mit erhobenem Zeigefinger tun. Moralische Entrüstung ist keine historische Kategorie. Und die Geschichtswissenschaft ist nicht dazu da, etwa die Europäische Union als Institution zu legitimieren, so sinnvoll die europäische Integration zur Friedenssicherung auch ist.

Jugendliche gestalten seit vielen Jahren in Jülich das Gedenken zur Reichspogromnacht mit. Foto: Dorothée Schenk

Wie hat sich Erinnerung auf lokaler Ebene verändert?
Guido von Büren: Auf der Ebene Düren-Jülich lange Zeit fast gar nicht. Viele Jahrzehnte waren die Gedenkveranstaltungen wenig reflektiert, sind immer gleich gelaufen. Den ersten großen Unterschied hat die Ausstrahlung der US-Fernsehserie „Holocaust“ Ende der 1970er-Jahre gemacht. Damit erreichte die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus breitere Bevölkerungskreise, Fragen zu Krieg und Holocaust wurden offener thematisiert. Als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte, war dies ein anderer Wendepunkt. Diese Rede gilt als ein Meilenstein in der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland. Der Jülicher Geschichtsverein hat 1984/85 eine Ausstellung zu den Jahren 1944 bis 1948 gemacht, die ein Riesenerfolg war. Viele Betroffene lebten noch, wurden mit den Inhalten erstmals musealisiert konfrontiert. Inhaltlich hat das den Jülicher Geschichtsverein zerrissen. Der damalige stellvertretende Vorsitzende vertrat die Meinung, dass bei der Beschäftigung mit der Zeit und den Opfern, die die Bevölkerung gebracht hat, nicht verkannt werden dürfe, dass Jülich auch eine Stadt des Nationalsozialismus ist, dass auch hier Unrecht geschehen ist.

Befreiung oder Kriegsniederlage? Was ist historisch korrekt?
Guido von Büren: Natürlich ist Deutschland vom Nationalsozialismus befreit worden, viele Betroffenen haben es eben aber nicht als Befreiung empfunden und haben zum Teil mehrere Jahrzehnte gebraucht, bis sie bereit waren, das eher anzunehmen. Auch die Soldaten der Alliierten haben sich nicht in allen Fällen als Befreier begriffen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu stark das Tun jedes Einzelnen moralisch überhöhen oder abwerten. Damit maße ich mir auf einer historisch-politischen Ebene ein Urteil an, mit dem ich nur schwer umgehen kann.

Welche Gefahren gibt es?
Guido von Büren: Die Opfer-Täter-Ebene ist sehr komplex, manche Opfer waren auch Täter. Aber es darf nicht zu einer Umkehr kommen, dass sich Täter als Opfer sehen. Lange Zeit ist dies in der Erinnerungskultur so gewesen. Wer physisch und psychisch aus dem Krieg versehrt herausgegangen ist, konnte sich leicht in diese Opferrolle begeben. Ganz oft haben die Nazi-Narrative das Kriegsende überlebt, auch der „Sprech“ des Nationalsozialismus. Die Vokabel „Terror-Angriff“ beispielsweise. Hochproblematisch war, was mitschwang, wenn Friedenskreuze aus Coventry übergeben wurden. Das klang oft so, als würden sich die Zerstörung Coventrys und beispielsweise Nürnbergs auf einer Ebene befinden. Coventry ist verbrecherisch vom NS-Regime – wissentlich internationales Recht brechend – mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung zerstört worden. Es gab Flächenbombardements der Alliierten, um die Moral zu brechen. Aber sowohl die USA als auch das Vereinigte Königreich waren demokratisch verfasste Staaten, die sich damals extrem schwer damit getan haben. Die überwiegende Zahl der Angriffe hatte auch kriegstaktische Gründe.

„Es ist die Aufgabe der jüngeren Generationen, selber Formen des Erinnerns zu entwickeln, die ihnen zeitgemäß erscheinen.“

Guido von Büren

In Düren wird oft berichtet, dass am 16. November noch Alltag herrschte …
Guido von Büren: In Jülich hat es schon vor dem 16. November im Oktober drei massive Luftangriffe gegeben, bei denen eine vierstellige Zahl von Zwangsarbeitern ums Leben gekommen ist. Diese Angriffe wurden offenbar im kollektiven Gedächtnis ausgelöscht, weil es ein moralisches Dilemma gab. Auch Düren war eine Frontstadt. Das ist das Verbrecherische am NS-System: Die Menschen wurden zur Stabilisierung missbraucht, sie mussten Alltag spielen, obwohl die Kriegssituation völlig verfahren war. Beide Städte waren Drehscheiben für die Wehrmacht, es gab durchaus strategische Gründe für Luftangriffe. Gerade dies ist übrigens ein Punkt, den man mit jungen Menschen diskutieren kann: In welchem moralischen Dilemma befanden sich die damals Verantwortlichen? Das ist hochaktuell, wie der Blick in die Ukraine zeigt: Das Land wurde völkerrechtswidrig angegriffen und trägt mit den von uns gelieferten Waffen den Krieg nun nach Russland, wo ebenfalls Unschuldige geschädigt werden.

Gibt es denn einen sauberen Krieg?
Guido von Büren: Den kann es gar nicht geben. Kollateralschäden gab es immer. Aber es ging Jahrhunderte vor allem darum, Land zu gewinnen. Das änderte sich, als Nationalstaaten gegeneinander antraten und die Kriegsziele national überhöht wurden. Mit der französischen Revolution fängt der Kampf der Ideologien an, der sich im Zweiten Weltkrieg massiv radikalisierte.

Wie sähe heute das perfekte Gedenken aus?
Guido von Büren: Auch das kann es gar nicht geben. Aber es ist wichtig, eine Multiperspektivität zu ermöglichen. Geschichte ist immer komplex, nie Schwarz/Weiß. Die Briten und Amerikaner haben geschafft, was die Deutschen nicht geschafft haben: Sie haben einen Systemwechsel erzwungen. Dies sollte man sich ebenso vor Augen halten wie die immensen Folgen dieses Tuns.

Sollte man das Gedenken lieber lassen, um einer Vereinnahmung zu entgehen?
Guido von Büren: Um zu wissen, dass ich keinen Menschen töte, muss ich mich nicht historisch mit dem Holocaust beschäftigt haben. Unsere freiheitlich-demokratische Verfasstheit sollte als Wert so einleuchtend sein, dass ich dies nicht mit einem Terror-System vergleichen muss, um die Lehre zu ziehen: So darf es nie wieder sein. Aber es ist wichtig, sich mit den Mechanismen des Nationalsozialismus zu beschäftigen, um nachvollziehbar zu machen, wie es möglich wurde, eine Gesellschaft so zu indoktrinieren und zu enthemmen, dass solche Taten möglich wurden.

Sind dies alles eher theoretische Fragen für Historiker?
Guido von Büren: Dies sind keine theoretischen Fragen. Uns ist ein Stück des Common Sense verloren gegangen, wie wir uns Gesellschaft vorstellen. Es gibt ganz viele Subsysteme, wir könnten sie auch Blasen nennen. Vieles lässt sich nicht mit „damals“ vergleichen. Die Verfasstheit der Weimarer Republik ist eine andere, wir haben heute stärkere Sicherheitssysteme eingebaut. Beobachten können wir aber dennoch, dass der Meinungskorridor, auf den sich ein Großteil der Bevölkerung nach 1945 stets hat einigen können, immer schmaler wird. Stattdessen sehen wir wieder den Effekt der Versäulung von Sichtweisen, die auch die Gesellschaft in der Weimarer Republik geprägt hat. Damals war relativ schnell ein Punkt erreicht, an dem ein Sozialdemokrat nicht mehr mit einem Kommunisten, ein Gewerkschaftler nicht mehr mit einem Zentrumsmenschen sprechen konnte. Damals entstanden eigene Medien, Zeitungen, Illustrierte – also Meinungsblasen, die nicht geeignet waren, den Staat zu stabilisieren. Diese Erfahrung machen wir jetzt wieder. Diese Meinungsvielfalt entsteht durch Abgrenzung, nicht durch Austausch. Die einen wollen von den anderen nichts wissen und sich auch nichts sagen lassen.

Ich stelle noch einmal die Frage nach zeitgemäßem Gedenken.
Guido von Büren: Gedenken bleibt wichtig, um die Rückbindung zum Nationalsozialismus hinzubekommen. Erinnerung und Mahnung dürfen nicht von oben vorgeben werden, sondern es bedarf einer soliden Informationsbasis. Es ist die Aufgabe der jüngeren Generationen, selber Formen des Erinnerns zu entwickeln, die ihnen zeitgemäß erscheinen. Unser Plan als Museum Zitadelle ist es, mit den weiterführenden Schulen in Verbindung zu kommen, sie inhaltlich zu begleiten. Was bei diesem Prozess herauskommt, mag radikal anders sein als das, was wir heute für gesetzt ansehen. Wir sollten aber generell mehr Vertrauen in die aktuell jüngere Generation haben.

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Stephan Johnen
Kein Muttkrat, aber im Besitz einer Landkarte. Misanthrop aus Leidenschaft, der im Kampf für Gerechtigkeit aus Prinzip gerne auch mal gegen Windmühlen anreitet. Ist sich für keinen blöden Spruch zu schade. Besucht gerne Kinderveranstaltungen, weil es da Schokino-Kuchen gibt, kann sich aber auch mit Opern arrangieren.

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