„Wie ist es eigentlich als Jude in Deutschland?“. Eigentlich hatte Arkadij Khaet nicht die Intention, mit seiner Kunst ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Er wollte ganz einfach eine bildhafte Antwort auf diese immer wiederkehrende Frage, die die Verunsicherung und Distanz zwischen Kulturen und Religionen in Deutschland ausdrückt und für die es selten eine wertneutrale Lesart gibt. Aufschluss über den Alltag von Menschen jüdischen Glaubens fernab von stereotypischen Vorstellungen und die Wirkung von Worten gibt der mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“, um den herum die Stadt Jülich die Veranstaltung angelegt hat. Der Titel setzt sich aus dem jiddischen „Masel Tov“, das so viel bedeutet wie „viel Glück“ und dem Begriff Molotowcocktail zusammen.
Gezeigt wurde der Film anlässlich der Schulveranstaltung „Nie wieder ist jetzt – Wie kann ich mich gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus einsetzen?“, zu der die Schülerschaft aus dem Gymnasium Zitadelle, der Sekundarschule und dem Mädchengymnasium eingeladen waren. Der Leitgedanke hinter der Impulsveranstaltung war, Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonal eine Plattform zu bieten, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen, die Wahrnehmung von diskriminierenden Handlungen zu schärfen und die Abgrenzung zu treffen, ab wann sogar unreflektierte Worte Menschen verletzen.
Dass Arkadij Khaet die eingangs erwähnte Frage im Rahmen von Aufklärung an Schulen in ganz Deutschland jetzt immer wieder beantworten muss und so die Perspektive auf Menschen jüdischen Glaubens erweitert, betrachtet er ganz selbstironisch als „selbstgewähltes Leid“.
Er produziert einen Film, der seinen Zuschauern einen Querschnitt aus dem Alltag von Dimitri zeigt. Dimitri, von seinem Umfeld auch „Dimo“ genannt, ist Gymnasiast, Sohn russischer Einwanderer und Jude. Zu seinem Leben gehören Pauschalisierungen und Vorurteile dazu. Als sein Mitschüler sich aber auf der Schultoilette über seine Beschneidung lustig macht und ihn auf seinen Platz im Konzentrationslager verweist, verliert der Jugendliche die Beherrschung und bricht seinem Gegner die Nase. Der darauffolgende Schulverweis und die Aufforderung seiner Eltern, sich bei seinem Mitschüler zu entschuldigen, bringt Dimitri im Film zu seinem Verteidigungsplädoyer. Wieso gilt er als Täter, obwohl er das Opfer von Diskriminierung ist? Wieso wird ihm eine Vergangenheit zugeschrieben, die ihn als Nachfahre von UDSSR-Bürgern gar nicht betrifft? Und muss er den klischeehaften Rollen entsprechen, die ihm aufgeprägt werden, weil er nun mal Jude ist? Die abwechslungsreiche Filmproduktion begleitet Dimo bei seiner „Tour de Force“ mit einem Mix aus Direktadressierung, historischen Einspielern und Infografiken und begegnet dabei den ganz unterschiedlichen Gesichtern von Diskriminierung. Denn das wird im Film ganz deutlich: Diskriminierung ist nicht nur das bewusste zum Ausdruck bringen von Minderheitenfeindlichkeit, sondern steckt auch in ignoranten Aussagen von Unwissenden, pseudo-empathischem positivem Rassismus, Instrumentalisierung um andere Feindbilder zu schüren und Stereotypisierung. Die vielfältigen Emotionen, die Nichtbetroffene im Film Dimitri gegenüber zeigen, reduzieren ihn darauf, dass er Jude ist und rauben ihm seine Sichtbarkeit als Person. Diese Erkenntnis fasst er zum Schluss enttarnend zusammen: „In diesem Film fiel 32 mal das Wort Jude. Aber ich wache morgens nicht auf und denke, ich bin einer.“
Mit diesem frustrierenden Gefühl der Wirkungslosigkeit lässt der Film im KuBa die Schülerinnen und Schüler kurz still und nachdenklich zurück. Diese haben sich über die 30 Minuten Spielzeit völlig in Dimos Gefühlswelt hineinversetzt und sind erschrocken über die Haltung seiner Mitmenschen. Auch das anschließende Gespräch mit dem Regisseur Arkadij Khaet vermittelt eindrücklich, dass die vereinfachte Figur des Juden, die mancher für erwiesen erachtet, weit gefehlt und deutlich komplexer ist. Für Khaet ist es ein besonderes Anliegen, dass die Vorstellung, die in den Köpfen durch die Darstellung von Juden und Jüdinnen in den Medien kursiert, nicht deckungsgleich ist mit dem jüdisch sein. Jüdisch sein bedeutet nicht, einen Bezug zu Israel zu haben. Jüdisch sein bedeutet nicht, von der NS-Vergangenheit betroffen zu sein.
Den Podiumsrednern geht es dabei im Übrigen nicht nur um Menschen jüdischen Glaubens, auch die Stigmatisierung von Menschen mit anderen Religionen, Ethnien oder Abweichungen der Norm steht im Fokus. So findet die Runde nach dem Interview mit dem Regisseur Zuwachs durch zwei Vertreterinnen des Abrahamischen Forums Deutschland e.V.. Das Abrahamische Forum ist ein Zusammenschluss aus verschiedenen Religionen und engagiert sich für den interreligiösen Dialog.
Die drei Podiumsgäste sind sich einig: Für mehr Chancengleichheit und kollektiven Zusammenhalt braucht es Zugänglichkeit und Verständnis füreinander. Deshalb fallen auch die Antworten auf die Frage, was sich die Drei als Vertreter von Betroffenen wünschen, eindeutig aus: Dialog und Solidarität.
Khaet führt seine Gedanken zur Frage aus und wünscht sich in erster Linie ein allgemeines Bewusstsein und Empathie für die strukturelle Benachteiligung, die aus Rassismus und Antisemitismus hervorgeht. Im Film fällt der Satz „Antisemitismus ist wie Herpes, es gibt kein Mittel dagegen.“ Für Khaet gibt es schon ein Mittel, und zwar das Immunsystem zu trainieren. „Veranstaltungen wie diese sind wie ein Immunsystemtraining. Man muss es immer wieder machen“ unterstreicht er.
Welche Bedeutung der ständigen Immunisierung gegen einschleichende Diskriminierung zukommt, ist spätestens seit Ausbruch des jüngsten Gaza-Krieges auch bei uns in Deutschland ohne Zweifel zu spüren. Spätestens jetzt sollten wir mit dem Training beginnen, die über Jahrzehnte entstandenen Schäden am Herzen unserer Gesellschaft einzudämmen und Folgeerkrankungen vorzubeugen.
Sylvia Amiani, Leiterin der Beratungsstelle für Antidiskriminierung NRW, schließt die Veranstaltung mit folgenden Worten: „Natürlich könnt ihr nichts dafür, dass die Dinge passiert sind, aber wofür wir alle verantwortlich sind, ist, wenn wir den Status quo so hinterlassen und weiterreichen an die kommende Generation.“