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Kino ist politisch

Die Berlinale ist nicht nur das größte Publikumsfestival der Welt, sondern auch das politischste.

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Peer Kling. Foto: Volker Goebels
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Beim größten Publikums-Filmfestival der Welt gibt es für 15 Euro Eintrittskarten zu kaufen, aber nur noch online. Filminteressierte haben dieses Jahr wieder bereits am ersten Tag des Vorverkaufs knapp 78.000 Tickets erstanden. Das Kuba-Kino könnte rein theoretisch das ganze Jahr über „von den Berlinale-Filmen leben“. Auch wenn die Berlinale die Anzahl für 2024 deutlich reduziert hat, so wäre doch mit nur 17% der Berlinale-Filme das gesamte Kuba-Jahresprogramm inklusive der Kinderschiene zu bedienen. Traditionsgemäß finden insbesondere viele Wettbewerbsfilme in das jährliche Kuba-Programm, sicherlich auch der neue Film von Andreas Dresen: „In Liebe, Eure Hilde“. Das nach wahren Begebenheiten gespielte Widerstands-Drama der Nazi-Zeit kommt allerdings erst am 17. Oktober in die deutschen Kinos, so dass wir wohl im November auch in Jülich mit dem Film rechnen dürfen. Dem wirklichen Geschehen nach, gebärt Hilde ihren Sohn als politische Gefangene im Gefängnis. Die Welt ist immer wieder klein. Meine Gastgeber in Berlin sind mit dem wirklichen Sohn von Hilde bekannt. Schon mit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ hatte Dresen 2022 einen sehr politischen Film im Wettbewerb.

Bereits die Gründung der Berlinale war ein politischer Akt. Sie geht auf eine Initiative des Film Officers der Militärregierung der Vereinigten Staaten, Oscar Martay zurück, der in dieser Funktion die Berliner Filmindustrie beaufsichtigte und förderte, unter anderem mit mehreren Darlehen der amerikanischen Militärregierung, mit denen die Finanzierung der Filmfestspiele in den ersten Jahren sichergestellt wurde. Unter dem Motto „Schaufenster der freien Welt“ eröffnete die erste Berlinale am 6. Juni 1951. Die Festspiele fanden bis 1978 im Sommer statt. Im Ostteil der Stadt gab es als Reaktion auf die Berlinale das „Festival des volksdemokratischen Films“, auf dem hauptsächlich Filme aus dem Ostblock gezeigt wurden. Dieses Filmfest fand ebenfalls erstmals 1951, eine Woche nach dem Ende der Berlinale statt. Die Teilung Berlins hatte ihre Entsprechung in der politischen Polarisierung zweier fast parallel laufender Filmfeste. Auf der Berlinale 1970 kam es durch den Vietnam-Kriegsfilm „O.K.“ von Michael Verhoeven zu einem heftigen Streit. Die Jury trat zurück. Das Wettbewerbsprogramm wurde abgebrochen. Auf der Berlinale 1971 wurde daraufhin neben dem traditionellen Wettbewerb mit dem „Internationalen Forum des jungen Films“ eine ehemalige Gegenveranstaltung in das Festival integriert, das junge und progressive Filme vorstellen sollte. Von Anfang an war Ulrich Gregor beim Forum mit dabei, ab 1980 als Leiter. Ich hatte auf den Film von Alice Agneskirchner über ihn und seine Frau hingewiesen, siehe: https://www.herzog-magazin.de/nachrichten/er-ist-wieder-da/ Ich hatte Gelegenheit, mit den dreien bei der Berlinale zu sprechen.

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Durch die Veränderungen infolge der Ostpolitik Willy Brandts, die mit einer kulturellen Öffnung der Ostblockstaaten einherging, kamen 1974 mit “Mit dir und ohne dich“ von Rodion Nachapetow und 1975 mit „Jakob der Lügner“ zum ersten Mal ein sowjetischer und ein DDR-Film ins Programm. Perestroika, Glasnost, der Wegfall des Eisernen Vorhangs und schließlich der Fall der Mauer wurden zu Berlinale Filmthemen und eröffneten zugleich durch die Aufhebung von Filmverboten neue Möglichkeiten. So wurde der Film „Die Kommissarin“ (UDSSR, 1967) gleich nach seiner Fertigstellung zwanzig Jahre lang verboten. Die Thematisierung jüdischen Lebens und Sterbens sowie die unorthodoxe Darstellung der Bürgerkriegszeit passten nicht ins sowjetische Geschichtsnarrativ. Im Anschluss an die internationale Erstaufführung bei der Berlinale 1988 konnte das Meisterwerk weltweit bewundert werden. In diese Zeit fiel auch die Vorführung eines anderen russischen ehemals verbotenen Films, dessen Titel ich nicht erinnere. Ich saß in der letzten Kinoreihe und ein Russe neben mir, der offensichtlich ganz bewusst einen etwas abseits gelegenen Platz gewählt hatte, fing bitterlich an zu weinen. Dadurch bekam der Film für mich noch einmal eine ganz andere Realitätsebene. Das Thema des Films atmete in der Wirklichkeit hier und jetzt direkt neben mir. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen, wollte aber nicht übergriffig sein und habe ihm sein Privatsphäre gelassen.

Peer Kling nutzte in der Kongresshalle – jetzt als Haus der Kulturen der Welt genutzt – Gelegenheit, mit Alice Agneskirchner zu sprechen. Ihr Film „Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors“ wurde passend zur Eröffnung der Berlinale im Fernsehen gesendet. Siehe: https://www.rbb-online.de/doku/k-l/komm-mit-mir-in-das-cinema-die-gregors.html
Foto: Selfie

Am Donnerstag dem 20. Februar 2020 war eine feierliche Eröffnung der Berlinale zu ihrem 70. Geburtstag geplant. Es war die erste Berlinale unter der neuen Leitung mit Carlo Chatrian als künstlerischer Direktor und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin. Die Eröffnung wurde zur Trauerfeier und zu einem Manifest für Toleranz und Frieden. Am Abend zuvor hatte ein 43-Jähriger neun Menschen mit Migrationshintergrund, danach seine Mutter und schließlich sich selbst erschossen. Mindestens fünf weitere Menschen erlitten Schussverletzungen. Das Bundeskriminalamt (BKA) stufte die Morde des von paranoiden Wahnvorstellungen geprägten Täters als rechtsextrem und rassistisch motiviert ein. Auch jetzt am vierten Jahrestag 2024 versammelten sich erneut Filmschaffende auf dem roten Teppich vor dem Berlinale Palast im Gedenken an die Opfer. Das Berlinale-Team rund um das Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian hatte dazu aufgerufen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, teils untergehakt oder Hand in Hand, zeigten Plakate wie «Rassismus tötet», sagten die Namen der Getöteten laut auf und legten eine Schweigeminute ein. Damit wollten sie «das Bewusstsein dafür schärfen, dass Hanau überall sein kann».

Der Dokumentar- und Debütfilm unter der Regie von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor „No Other Land“ wurde nach seiner Weltpremiere mit dem Berlinale Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Ich habe ihn im Zoo Palast gesehen. Vor dem Kino demonstrierten Menschen mit israelischen Fahnen und Bildern von Geiseln für deren Freilassung. Auch ich fand das Dokument sehr gut. Es zeigt wie alten Menschen, Eltern und Kindern im Westjordanland vor ihren Augen das ohnehin mehr als spärliche Dach über dem Kopf von Radladern weggerissen wird. Ein junger Palästinenser als Opfer und sein Freund, ein israelischer Journalist und Aktivist ergreifen Partei. Der Auftritt der Filmemacher bei der Preisverleihung löste wie schon zuvor die documenta fifteen eine weitere Diskussion um Antisemitismus aus. Zu diesem Eklat kann ich nichts aus erster Hand berichten, denn für die Preisverleihung im Berlinale Palast gibt es keine Tickets für Akkreditierte. Die Karten für diese Veranstaltung gibt es auf Einladung. Aber die Medien haben ja ausführlich berichtet. Meiner Meinung nach, gab es in der traurig langen Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis beidseitig immer wieder Menschenrechtsverletzungen. Natürlich ist der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf das schärfste zu verurteilen, aber auch Israel hat Schuld auf sich geladen, zum Beispiel 1982, als sich Verteidigungsminister Scharon wegen der Mitschuld der israelischen Armee an den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Beiruts zum Rücktritt gezwungen sah. Die Berlinale sollte nicht der Ort für Hetzkampagnen sein. Es ist vielmehr ein geeigneter Ort, sich die Hand zu reichen. Die Filme sind ein Mittel, über das Unrecht in dieser Welt zu informieren und den Sinn aller Menschen für Gerechtigkeit zu schärfen.

Das ZDF Morgenmagazin hatte kurz vor der Bärenvergabe eine Umfrage gemacht und eine Hitliste erstellt. Siehe: Ich wurde auch befragt. Die Tipps und Voraussagen der vornehmlich Filmjournalisten hatten nachher mit der wirklichen Bärenvergabe nicht viel gemeinsam. Nicht nur im Fachpublikum gab es Kopfschütteln. Mein ganz persönlicher Lieblingsfilm lief erst gar nicht im Wettbewerb, sondern im Forum. „Henry Fonda for President“. In dem über dreistündigen „Denkmal“ charakterisiert der Österreicher Alexander Horwath mit Hilfe der Filme von Henry Fonda auf einmalige Weise die USA. Mit Hilfe der sezierend gründlichen Recherche durch Regina Schlagnitweit und in Zusammenarbeit mit dem für Kamera, Montage und Ton verantwortlichen Michael Palm ist Horwath ein Meisterwerk gelungen, das durchaus auch als eine politische Stellungnahme zu diesem Land zu sehen ist. Besonders die Zitate rund um den Film „Fail Safe“ („Angriffsziel Moskau“), dem Polit-Thriller aus dem Jahr 1964, der zur Zeit des Kalten Krieges spielt, machen dies überdeutlich. Eigentlich ist es ein Dokumentarfilm, aber die perfekt aus dem Fond der Fonda-Filme ausgewählten Filmzitate vermitteln die Erfolge sowie das totale Versagen der Vereinigten Staaten mit einem Spielfilm-Feeling. Alexander Horwath ist Kurator, Filmhistoriker und Filmemacher, war Direktor der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums.

Seit 2002 wird vor jeder Berlinale-Vorstellung vorweg der geniale Festival-Trailer von Uli M Schueppel mit der Musik von Johannes Koeniger und Xaver von Treyer gezeigt. Immer wenn ich den ersten Film bei der Berlinale schaue und ich nach einem Jahr Pause zum ersten Mal wieder diesen Trailer höre und sehe, erfüllt mich in freudiger Erwartung ein leichter Schauer. Ich freue mich schon auf 2025.

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Peer Kling
Peer Kling, typisches "KFA-Kind", nicht aus der Retorte, aber in der zweiten Volksschulklasse nach Jülich zugezogen, weil der Vater die Stelle als der erste Öffentlichkeitsarbeiter "auf dem Atom" bekam. Peer interessiert sich für fast alles, insbesondere für Kunst, Kino, Katzen, Küche, Komik, Chemie, Chor und Theater. Jährlich eine kleine Urlaubsreise mit M & M, mit Motorrad und Martin.

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