Ich darf zunächst Ihnen, lieber Heinz Spelthahn und den weiteren Mitgliedern des Vorstands der Jülicher Gesellschaft zunächst ganz herzlich für ihr Engagement – ganz im Kontext ihres Vereinsnamens, gegen das Vergessen und für die Toleranz – danken. Erneut erinnern sie am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die rote Armee an die Schrecken des Holocaust. Auf Twitter ist der Hashtag des Tages: #weremember.
Hetze, Antisemitismus, Rassismus dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Weder heute noch in Zukunft. Damit die schrecklichen Taten der Nationalsozialisten nicht vergessen werden, haben wir die Verantwortung, daran zu erinnern. Sie, die Jülicher Gesellschaft erinnerten schon zu Zeiten als es Twitter und Hashtags noch nicht gab. Vielen Dank dafür, (sicher auch im Namen meiner heute hier anwesenden Kollegin Marion Schunck-Zenker und meiner Kollegen Axel Fuchs, Hermann Heuser und Ralf Claßen.)
Mein guter Nachbar aus Hasselsweiler, meinem Wohnort, Dr. Walter Liedgens, Vorstandsmitglied der Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen und für die Toleranz, hat mich vorgestern, am Freitag im Titzer Rathaus besucht und mich gebeten, hier und heute Abend, an eine, jedenfalls in der deutschen Öffentlichkeit, weitestgehend unbekannte Form von Emigration und Flucht im monströsen Kontext des furchtbaren Holocaust zu erinnern. Das will ich gerne tun, es geht um die so genannten „Kindertransporte“.
Wir haben diesen Teil der Geschichte, den ich Ihnen gleich näherbringen möchte, im Rahmen unserer, der Titzer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht im vergangenen November, herausgearbeitet, ausgelöst wiederum durch unsere beginnenden Gemeindepartnerschaft mit Lontzen, einer Gemeinde im deutschsprachigen Teil Belgiens.
Dort, in der Gemeinde Lontzen, lag der – zunächst preußische, bis 1918 dann deutsche und danach dann belgische – große Grenzbahnhof Herbesthal. Dieser Grenzbahnhof spielte im weitgehend unbekannten Kapitel der so genannten Kindertransporte der Jahre um 1938 und bis 1940 eine besondere Rolle:
In dieser Zeit, der Phase zwischen sich verschärfender Judenverfolgung, insbesondere nach den Novemberpogromen 1938 und dem Beginn des Westfeldzugs, dem Überfall auf unsere westlichen Nachbarn am 10. Mai 1940, wurden jüdische Kinder und Jugendliche aus dem Deutschen Reich – von ihren Familien getrennt und teilweise ohne Wiedersehen nach dem Krieg – über den Bahnhof Herbesthal in das damals noch unbesetzte Königreich Belgien transportiert und damit dem Zugriff der Nazi-Schergen entzogen.
Exemplarisch am Beispiel einer Familie, und konkret ihren beiden Söhnen, haben wir in diesen Teil unserer Geschichte bei der Gedenkveranstaltung in der ehemaligen Landsynagoge in Rödingen zunächst durch Änneke Winkel, Mitarbeiterin des Lern- und Gedenkortes Jawne, Köln, und durch Adrian Stellmacher, Leiter der Recherche des Projekts „Kindertransporte über den Bahnhof Herbesthal“, vorgestellt.
Wie müssen wir uns dies vorstellen?
Ab dem Herbst 1938 verschärfte sich die Judenverfolgung im deutschen Reich. Reisefreiheit, so wie sie heute kennen, gab es damals nicht, offene Grenzen gar nicht, für Juden schon einmal gar nicht. Dem System zu entfliehen, zu emigrieren, war in den Anfangsjahren des so genannten dritten Reichs noch möglich, später kaum noch. Ausreisen aus Deutschland war aber nur eine Schwierigkeit, Einreisen in Nachbarstaaten aber oft eine ebenso große. Die Einreisebestimmungen denkbarer Aufnahmeländer waren streng, jedenfalls bei erwachsenen Juden. Das heißt: Selbst wenn die Ausreise geglückt wäre, hätte ihnen in den Aufnahmeländern wegen nicht erfüllter Einreisevoraussetzungen, z.B. fehlender Visa, die rasche Abschiebung ins Reich gedroht.
Bei Kindern, bei Jugendlichen, war sowohl die Ausreise aus Deutschland als auch die Einreise in benachbarte Staaten einfacher. Gut formulierte Einladungen aus dem Ausland, zu tatsächlichen, teils auch nur vermeintlich existierenden Verwandten, zur Sommerfrische an den Küsten unserer westlichen Nachbarländer, reichten für Kontrollen im Reich und an der Grenze oft aus. Dennoch waren die Strapazen der Reise, in der dritten Klasse, auf Holzbänken, teils gar in der vierten Klasse, vergleichbar mit Güterwaggon heutiger Tage, enorm. Ein Zeitzeuge, den ich heute in Herbesthal erlebte, sprach – in französisch – von Pipi und Caca.
Aber eine Ausreise aus Deutschland bedeutete auch für Kinder und Jugendliche nicht automatisch auch die Einreise in Nachbarstaate. Mitte Dezember 1938 z.B. harrten rund 70 Kinder tagelang in einem Wagen der vierten Klasse am belgischen Grenzbahnhof Herbesthal aus. Ihnen wurde die Einreise verwehrt, sie wurden zurück ins Reich abgeschoben. Über ihr weiteres Schicksal ist wenig bekannt.
Im Königreich Belgien setzte dann das ein, was wir heute Zivilcourage nennen würden: Proteste der Bevölkerung, auch eine Intervention der Königsfamilie, trugen zum Bewusstseinswandel bei. Fortan lockerte Belgien die Einreisebestimmungen für Kinder und Jugendliche. Rund 1.000 konnten in den Monaten insbesondere des Jahres 1939 das Deutsche Reich verlassen.
Zahlreiche Eltern aus dem gesamten Reich, nicht nur aus der Region, ab Ende 1938, über das gesamte Jahr 1939, auch noch nach Kriegsbeginn, bis in das Jahr 1940 hinein – der so genannte Westfeldzug begann erst im Mai 1940 – von ihren Kindern getrennt, sie in Züge gesetzt, meist zunächst nach Köln, dort gab es in dieser Zeit noch eine halbwegs funktionierende jüdische Infrastruktur – heute würden wir von Netzwerken sprechen – von dort aus in kleineren Gruppen mit der Reichsbahn über Aachen nach Herbesthal.
Die Kinder selbst, insgesamt, also nicht allein über Herbesthal, konnten rund 10.000 Kinder und Jugendliche in dieser Zeit ausreisen, – über Herbesthal waren es knapp 1.000 – überlebten weitgehend Krieg und Verfolgung, auch nach der Besetzung Belgiens. Viele konnten untertauchen, viele, die allermeisten, sich nach Großbritannien absetzen, in die Schweiz, nach Spanien oder in den Teil Frankreichs durchschlagen, der, von Deutschland unbesetzt, Vichy-Frankreich genannt wurde.
Nicht alle der zunächst geretteten Kinder und Jugendlichen entgingen später der Deportation, der Vernichtung. Viele aber überlebten, kamen in Pflegefamilien unter, einige traten der Resistance bei; zahlreiche der insbesondere über Herbesthal entkommenen Kinder und Jugendlichen gehört knapp zehn Jahre später zu den oft jungen Erwachsenen, die den Staat Israel gründeten und aufbauten.
Deshalb eine schöne Geschichte?
Oder doch eine herzergreifende?
Denn die Trennung von den Eltern auf irgendwelchen Bahnsteigen des deutschen Reichs war in vielen Fällen eine Trennung für immer, eine auf Nimmerwiedersehen. Ich mag mir nicht vorstellen, wie im „Familienrat“ Entscheidungen diskutiert wurden:
Ob es nicht doch besser sei, zusammenzubleiben? Ob es denn möglicherweise doch alles nicht so schlimm würde mit den Nazis? Ob es den Kindern zuzumuten sei, allein die Reise aus weit entfernten Regionen des Reichs bis nach Belgien, von dort aus bis nach England, anzutreten? Einige der Kinder waren erst sechs Jahre alt. Ich konnte heute in Herbesthal mit einem Zeitzeugen sprechen, geboren 1932, der 1939 ausreiste, mit sieben Jahren.
Das ist die Perspektive der Kinder? Und die der Eltern, der Großeltern, der zurückbleibenden Geschwister? Auch sie standen an Bahnsteigkanten standen, verabschiedeten sich weinend von ihren abreisenden Kindern: Und überlebten den späteren Holocaust in vielen Fällen nicht. Die Kinder und Jugendlichen wiederum, die Geretteten, soweit sie denn den Krieg überstanden, erfuhren in vielen Fällen erst nach Kriegsende vom Schicksal ihrer Angehörigen, ihrer Lieben, fühlten sich ob ihres eigenen Überlebens oft schuldig, litten lange darunter, manche ihr Leben lang, blieben traumatisiert.
Die Überlebenden dieser Kindertransporte, heute Menschen im Alter von 85 Jahren oder mehr, werden nach einer erst im Dezember 2018, also vor rund sechs Wochen bekannt gegebenen, Vereinbarung des Bundesministeriums der Finanzen und der Jewish Claims Conference über einen Einmalbetrag von 2.500 Euro symbolisch entschädigt.
An die Flucht jüdischer Kinder und Jugendlicher wird in der Öffentlichkeit viel zu selten erinnert, in Deutschland selbst ist das Thema weitgehend unbekannt. Ich selbst erfuhr erst im vergangenen Jahr davon, und zwar im Rahmen unserer Gemeindepartnerschaft mit Lontzen und durch den früheren Bürgermeister Lontzens, meinen Freund Alfred Lecerf. Er ist nicht mehr im Amt, hat aber die Aufstellung eines Denkmals in Erinnerung an die Kindertransporte am ehemaligen Grenzbahnhof Herbesthal mit veranlasst. Dieses Denkmal haben wir heute Nachmittag enthüllt, im strömendem Regen eingeweiht, dennoch mit rund 400 Gästen, in Anwesenheit des ostbelgischen Ministerpräsidenten Oliver Paasch, in Anwesenheit auch des deutschen Botschafters im Königreich Belgien, Martin Kotthaus, ich durfte dabei sein, was mich berührt hat.
Laut Wikipedia gibt es in Deutschland zwei Denkmäler zu den Kindertransporten, eine Skulptur mit dem Namen „Züge ins Leben, Züge in den Tod“ in Berlin, am Bahnhof Friedrichstraße. Und eine weitere Skulptur am Dammtorbahnhof in Hamburg mit dem Namen „Der letzte Abschied“. Seit heute Nachmittag ist in der Nähe, wenn auch auf belgischer Seite der Grenze, am ehemaligen Grenzbahnhof Herbesthal, ein Denkmal besuchbar.
Meine Landgemeinde, ich sagte es bereits, hat das Thema im Rahmen der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht im vergangenen November, 80 Jahre nach 1938, behandelt. Vorgetragen haben an diesem Abend u.a. Leah-Sophie Frantzen, meine Tochter, und zwar für das Jugendparlament, und Leslie Haderlein, einer Mitarbeiterin des Titzer Rathauses. Beide sind heute hier.
Meine sehr geehrten Damen,
meine Herren,
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – So beginnt unser Grundgesetz. Das war die Antwort auf zwölf Jahre Nationalsozialismus, auf unsägliche Menschenverachtung und Barbarei, auf den Zivilisationsbruch durch die Shoah.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – Das ist das Fundament des Zusammenlebens in unserem Land, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Wann immer Menschen in unserem Land ausgegrenzt, bedroht, verfolgt werden, verletzt das die Fundamente dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung, verletzt es die Werte unseres Grundgesetzes. Der Staat ist deshalb mit seiner ganzen Kraft gefordert.
Doch mit staatlichen Mitteln allein lassen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Unser Staat benötigt Partner:
Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen – eine starke Zivilgesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen. Sie beruht darauf, dass sich jeder mitverantwortlich für das Ganze fühlt, dass jeder seinen persönlichen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben leistet. Zivilgesellschaft wächst in den Familien. Bereits in frühen Jahren erlernen Kinder die Grundlagen eines verantwortungsbewussten Miteinanders. Kinder, die heute so alt sind wie die damals über Kindertransporte geretteten Kinder.
Tagtäglich setzen zahlreiche kleine und größere Initiativen auch in meiner Gemeinde starke Zeichen gegen Hass und Gewalt. Ins Leben gerufen wurden sie von couragierten, mutigen Menschen. Einige von ihnen sitzen hier unter uns. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mit Ihren Möglichkeiten für ein gedeihliches Miteinander werben und gegen Hass und Gewalt eintreten.
Der irische Denker Edmund Burke hat einmal gesagt – ich zitiere:
„Für den Triumph des Bösen reicht es,
wenn die Guten nichts tun.“
Ja, Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit. Dafür danke ich der Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen und für die Toleranz. Vielen Dank dafür, dass ich hier sprechen durfte.
Und vielen Dank dafür, dass Sie mir zugehört haben.
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