Start Hintergrund Offener Brief an die Jülicher Parteien: Thema „Leerstände“

Offener Brief an die Jülicher Parteien: Thema „Leerstände“

Mit Interesse habe ich die Antworten der Parteien und /oder Fraktionen in der Maiausgabe des Jülicher Herzog-Magazins zur Frage des Umgangs mit Leerständen in Jülich gelesen. Dieses Thema lässt mich auch nicht los - zumal ich damit auch die persönliche Frage verbinde, ob ich in zwanzig Jahren Werbegemeinschafts- und Stadtmarketingvorstand nicht mehr hätte dagegen tun können, auch wenn es weder ein nur lokal vorkommendes noch nur hier verursachtes Problem darstellt. Deshalb - und auch wegen der anstehenden Beschlussfassungen zum Jülicher Integrierten Handlungs-Konzept (InHK) - möchte ich einige Bemerkungen oder Ideen kommentieren.

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Wolfgang Hommel. Foto: Dorothée Schenk
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Aussage: „Die meisten Einkäufe werden in Supermärkten, der nächsten Großstadt oder online erledigt.“
Diese Aussage würde ich so pauschal nicht teilen. Man muss sie zumindest nach Branchen unterteilen.

Auf der Seite der IHK Aachen wird die Jülicher Kaufkraft mit 101,8% immer noch (früher deutlich höher) ein wenig überproportional angegeben, der tatsächliche Umsatz des Einzelhandels (auch mit Besuchern der Stadt) mit 93,1 % und die Zentralität mit 91 %. Also schaffen es die Einzelhandelsbetriebe, einen sehr hohen Anteil in den Stadtgrenzen zu binden.

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Es gibt leider keine Untersuchung über den Anteil der Innenstadt im Vergleich zur „Grünen Wiese“. Da hilft vielleicht ein Blick in die Sparten:
Demnach ist die Summe der Einzelhandelsrelevanten Kaufkraft 2019 in Jülich 234 Millionen Euro, wovon 91 % hier gebunden wurden, also 213 Millionen Euro Umsatz in Jülich. Das wird nicht gleichmäßig auf alle Branchen zutreffen, z.B. Möbel kaum. Auch Elektrogroßgeräte, IT und Elektronik, Baumarktartikel und KFZ gibt es nicht in der Innenstadt. Das macht in der Summe etwa 50 Mio. Kaufkraft, von denen m.M. höchstens die Hälfte am Stadtrand getätigt wird, also 25 Millionen Euro.

Der größte Anteil der Kaufkraft bezieht sich mit 96 Millionen Euro auf Nahrungs- und Genussmittel. Leider wird hiervon der größte Teil außerhalb der Innenstadt umgesetzt, da hier mit Netto, Penny und Norma nur drei Märkte, der Wochenmarkt und viele kleinere Einzelhändler ansässig sind, während mit Real, ReWe, 2x Aldi, 2 x Netto, Lidl, den Getränkemärkten die großen Umsätze außerhalb, ja evt. wegen der guten Agglomeration in Aldenhoven, Niederzier, Titz und Linnich auch außerhalb gemacht werden.

Deshalb würde ich weitere 75 Mio. Euro in Abzug bringen, die nicht in der Innenstadt getätigt werden.
Also müsste man die 213 Millionen Euro Umsatz in Jülich um 25 + 75 = 100 Millionen Euro außerhalb der Innenstadt reduzieren.
Trotzdem verblieben also noch etwas mehr als die Hälfte des Jülicher Einzelhandels-Umsatzes im Stadtzentrum, ein Umsatzpotenzial in der Stadt, um das es sich einzusetzen lohnt.

Mit der obigen Aussage wird der Eindruck erweckt, dass der Einzelhandel eine untergeordnete Rolle habe. Das ist nicht so! Es ist immer noch der dominierende Faktor, der Jülicher und Besucher in die Innenstadt bringt. Zwar nicht mehr in dem Maße wie vorher, aber man muss sich hüten, eine Schmälerung dieses Anteils der Kaufkraft in der Innenstadt zu riskieren.
Zusätzlich müssen alle versuchen, dem Eindruck entgegenzuwirken, dass der Einkauf in der Innenstadt obsolet sei oder sogar unerwünscht – das Gegenteil muss der Fall sein, mehr Marketing, siehe unten!

Aussage: „Bebauung des Walramplatzes mit einem Zugpferd“
Ja, das ist richtig: Der größte Einzelhandelsanteil ist Lebensmittel und da hat die Innenstadt außer den Spezialangeboten der Einzel-Händler nur das gleiche zu bieten wie die Peripherie, ja sogar weniger Sortimentsbreite und -tiefe. Daran muss sich etwas ändern. Ob der Walramplatz die richtige Stelle ist, muss inzwischen bezweifelt werden, da die erste Ankündigung des Projektes inzwischen sechs Jahre her ist. Werden dafür Gründe hinterfragt oder Alternativen gesucht?
Aussagen: „Der lokale Handel muss digitale Angebote und Lieferservice ausbauen!“
Richtig ist, dass auch der lokale Handel digital präsent sein muss. Leider hatte das Projekt „meinjuelich.de“ nicht die erhoffte Zugkraft.
Das zeigt aber auch die Probleme auf: Die doppelte Aufmerksamkeit des Händlers auf Kundenbindung vor Ort und auf die Pflege der digitalen Welt überfordert Zeit- und Finanzbudgets, die innerstädtische Händler nicht (mehr) haben. Eines von beiden leidet. Und wenn man Zustellung forciert, kommen noch weniger Kunden in die Innenstadt, es unterbleiben Spontan und Zusatzkäufe, und die Synergieeffekte der Gastronomie schwinden. Außerdem sind solche Angebote aus der Innenstadt heraus nur in Ausnahmefällen rentabel durchzuführen.
Also: Dieses Ziel nützt der Innenstadt wenig.

Aussage: „Neues Marketing muss her!”
Ja, wir brauchen ein neues Marketing – der Slogan „Historische Forschungsstadt – Moderne Festungsstadt“ beschreibt unsere Alleinstellungsmerkmale, aber er beschreibt nicht, was man in Jülich erleben kann: Handel, Gastronomie, Kultur, Events. Dafür reicht nicht alleine ein neuer Slogan – es muss ein Marketing-Konzept entwickelt werden, das die Angebote verbindet und in der Region bekannt macht: Brückenkopf-Park, Museum, Handel, Gastronomie, KuBa, alle einzeln, mehr aber noch zusammen, bieten eine Freizeitgestaltung, die in der Region ihresgleichen sucht, aber besser bekannt gemacht werden muss.

Aussage: „Leerstände reduzieren!“
Die Zahl der Leerstände in der Innenstadt war 2019 deutlich rückläufig, was „nach Corona“ ist, weiß niemand, aber die reine Anzahl ist für das Leben in der Stadt unerheblich, höchstens für den optischen Eindruck. Ein Versicherungsbüro oder eine Physiopraxis kann nicht die Attraktivität entfalten und damit die Frequenzzahlen liefern wie zuvor ein Modegeschäft oder Juwelier. Das Branchenmix ist wichtig – und darum muss man sich kümmern, durch Kontakte zu Vermietern und Maklern.

Aussagen: „Leerstände nutzen!“
Zwischennutzungen sind schön, aber schwierig durchzuführen: Vermieter machen keine langfristigen Überlassungen, wenn sie doch auf einen zahlenden Mieter hoffen. Und häufig gibt es auch Gründe für den Leerstand, der in der Lage, dem Zuschnitt, dem Zustand oder dem Preis des Objektes liegt. Die ersten drei Gründe verheißen auch der Zwischennutzung selten Erfolg. Schon für die dekorative Nutzung z.B. mit den Muttkrateplakaten sind die wenigsten Vermieter bereit. Es scheitert häufig schon an der puren Bereitschaft zum Informationsaustausch. Das lässt für den nächsten Punkt nichts Gutes ahnen.

Aussage: „Eigentümer privater Immobilien bei InHK einbeziehen!“
Ja. Völlig richtig. Der Kontakt muss gesucht und gepflegt werden. Bisher gab es im Rahmen des InHK keine separate Ansprache der Immobilienbesitzer.
Und mittelfristig hilft dabei nur die Installation eines „City-Managers“. Dessen Aktivitäten müssen neben Kontaktpflege zum innerstädtischen Gewerbe auch weitere werbliche Aktionen sein. Für die vermehrten Aufgaben im Rahmen eines kooperierenden Marketing-Konzepts ist ein City-Manager unerlässlich.

Aussage: „Erreichbarkeit verbessern!“
Als vor mehr als zehn Jahren doppelt so viele Passanten in der Innenstadt waren als bei der letzten Zählung 2019 war die Erreichbarkeit nicht besser. Das ist nicht der Hinderungsgrund für den Besuch und den Einkauf – und eine Verbesserung der reinen Erreichbarkeit nicht das Heilmittel.
Wichtiger sind die gefühlten Besuchsbedingungen und die Aufenthaltsqualität:
Dazu zählen die Höhe der Parkgebühren, die in diesen Jahren angestiegen sind und die Einfühlsamkeit bei der Überwachung des ruhenden Verkehrs. Beides hat zu Ärger und Abschreckung geführt, auch wenn es im Vergleich zu andern Städten hier nicht schlimmer ist.
Die Aufenthaltsqualität misst sich an Ruhezonen, Sauberkeit, optischen Reizen der Veränderung – und an der Möglichkeit eines komfortablen WC-Besuchs. Es sind manchmal die grundlegenden Dinge des Lebens, die über Alternativorte entscheiden lassen!
Aussage: „Reduzierung von Parkgebühren und Stundung von Gebühren.“
Ja, beides gäbe psychologisch wichtige Signale an die Gewerbetreibenden, dass man etwas tut. Dabei muss die regelnde Funktion der Parkgebühren gewahrt bleiben, z.B. durch eine Verlängerung der freien Parkzeit von der „Brötchentaste“ zum „Einkaufsticket“. Auch die Verringerung der Gebühren für Straßennutzung wäre eine direkte Hilfe. Die Reduktion der Gewerbesteuer spürt nur der, der auch Steuern zahlen muss, weil er Gewinne ausweist – und deshalb hat der notleidende Gewerbetreibende davon nichts.

Aussagen: „Verbesserung der Plätze!“
Ja, wir haben uns schon viel zu lange daran gewöhnt, dass das Pflaster in der Kölnstraße marode und der Schlossplatz eine Wüste ist. Die Aufregung war früher größer – man resigniert. Auch wenn Auswärtige die Jülicher Innenstadt immer noch als anders und interessant beschreiben, (natürlich völlig zurecht), so fehlt doch das Attribut „schön“.
Das alleine wäre aber auch kein Allheilmittel. Man denke an die Düsseldorfer Straße: Die wurde vor bald zehn Jahren mit komplett neuem Pflaster belegt (das sich von der Optik her bewährt hat und Muster für andere Straßen bilden sollte), aber es hat nicht zu einer Renaissance der Straße geführt. Danach kam die Bauphase des Kreishauses, jetzt Corona; aber ein gutes Pflaster alleine ist eine notwendige Bedingung für ein attraktives Gewerbe, aber keine Garantie dafür.
Deshalb muss sich die Aufenthaltsqualität der Straßen und Plätze verbessern, für Events, aber dringender für den Alltag, da er häufiger ist! Treffpunkte, gastronomische und kostenlose, müssen für verschiedene Altersgruppen von 2 bis 90, jeweils passend gestaltet werden.

Aussage: „Co-Working-Arbeitsplätze, Home-office in Büro-Atmosphäre!”
Ja, wir müssen etwas für junge Wissenschaftler (und andere) tun, damit sie einen Grund haben, überhaupt die Innenstadt Jülichs zu besuchen, sonst wird der Brainergy-Park bei Erfolg auch ein gesellschaftlicher Treffpunkt für sie. Das sei gegönnt, könnte aber auch weitere zentralörtliche Funktionen verlagern. Also müssen die Erwartungen von FH-Studenten, TZJ-Firmen-Mitarbeitern, FZJlern usw. und ihre Anforderungen an interessante Treffpunkte erfragt oder anderswo beobachtet werden. Fehlt uns eine IT-Bar? Vielleicht könnte ein „Gründerzentrum“ in einem Leerstand digitale und analoge Ideen zusammenbringen?

Aussage: „Mittel- und langfristig: Mehr Einwohner!“
Das ist richtig und die einzig objektive Maßzahl für die Stadtentwicklung. Aber wie lange dauert das? Bei allen Bemühungen und Absichtserklärungen ist die Zahl der Bewohner heute vergleichbar mit der in den letzten 50 Jahren.
Welcher heutige Einzelhändler ist dann noch in seinem Job, wenn die jetzigen Bemühungen wirklich fruchten?
Trotzdem lohnen sich die ersten Schritte dorthin zügig zu beginnen. Und die beginnen bei der Infrastruktur, an der sich Ansiedlungswillige orientieren. Und dazu gehören Mobilitäts-, Digital- und Klimakonzepte.
Fehlende Aussagen zu neuen Nutzungen und Ideen:

Was ich in dieser Eindeutigkeit in den Stellungsnahmen vermisst habe:
Der Einzelhandel wird in der Innenstadt überleben, wenn seine Attraktivität durch weitere Nutzungen begleitet und gestärkt wird. Der Handel wechselt Schaufenster und Sortiment – nicht nur aus Langeweile, sondern weil man mit Änderungen Interesse weckt: Was ist da jetzt zu sehen? Was gibt es zu sehen, zu probieren oder zu kaufen? Handel ist Wandel – und selbst eine Änderung bei den Mietern der Läden kann ein Grund für den Besuch sein.
Im Vergleich dazu sieht der Rahmen der Geschäfte, also die Straßen und Plätze viel zu lange immer gleich aus: Das Pflaster wird alle dreißig Jahre geändert, Bäume wachsen langsam und wenn dann noch an dem farbigen Blumenflor gespart wird, dann ändert nur noch die Weihnachtsbeleuchtung das Gesicht der Stadt. Das ist zu wenig! Jeder Baukran ist Zeichen einer Änderung; aber man kann ja nicht immerfort in der City bauen.

Wir brauchen
– Raum für Künstler, die jedes Jahr eine Straße oder einen Platz anders gestalten!
– Im Winterhalbjahr wechselnde Lichtinstallationen!
– Flexible Möblierung der Plätze und Straßen!
– Mindestens einen Großbildschirm mit wechselnden Informationen zu Jülich!
– Forschung in der Innenstadt: Jedes Jahr ein neues Thema in einem Ladenlokal!
– Geschichte dezentral präsentiert – mit wechselnden alten Bildern!
– Einer Zitadelle, die man gerne allen Besuchern zeigt, mit -wie bisher- wechselnden
Ausstellungen, aber in geeigneten Räumen!
Dann können wir auch mehr Besucher anlocken – dann brauchen wir eine Besucherinformation, die ganzjährig geöffnet hat. Und dann wird man Leerstände nicht als Schandfleck, sondern als Chance zur Veränderung sehen.
Deshalb JÜLICH: JETZT!

Im Mai antworten alle Parteien auf die Frage nach dem Umgang mit Leerständen – aktuell in der Coronakrise, in der der Erhalt des Einzelhandels eines der wichtigen Anliegen ist.


§ 1 Der Kommentar entspricht im Printprodukt dem Leserbrief. Erwartet wird, dass die Schreiber von Kommentaren diese mit ihren Klarnamen unterzeichnen.
§ 2 Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht.
§ 3 Eine Veröffentlichung wird verweigert, wenn der Schreiber nicht zu identifizieren ist und sich aus der Veröffentlichung des Kommentares aus den §§< 824 BGB (Kreditgefährdung) und 186 StGB (üble Nachrede) ergibt.

2 KOMMENTARE

  1. Herr Hommel hat in sehr vielen Punkten absolut recht. Jedoch fehlt in meinen Augen im Bezug auf fehlende Besucher der Innenstadt der Punkt das durch den Tagebau Inden ca. 6000 Personen den Umweg nach Jülich nicht in Kauf nehmen. Hier kann nur die Politik in Verbindung mit dem Tagebaubetreiber für eine neu Verbindungsstraße sorgen. Diese würde sicherlich alte und damit wieder neue Kaufkraft bringen.

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