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Wer oder was sind Narren?

Durch die temporäre Schließung aller Museen und Ausstellungen in der Corona-Krise ist eine ungewohnte Situation entstanden: die Objekte und Kunstwerke im Museum sind sozusagen „allein zu Haus“. Wenn die Besucher nicht ins Museum kommen können, hatte das Jülicher Museumsteam die Idee, dass wenigstens einzelne Botschafter der Sammlung dafür zu den Besuchern kommen – zumindest medial vermittelt. Hier kommt das erste Gemälde auf „Hausbesuch“:, erläutert von Wolfgang Schneiders: Herb Schiffer, Das Narrenschiff, Öl auf Leinwand, 2007, 99,5 x 69,5 cm, Museum Zitadelle Jülich, Inv.-Nr. 2007-0051.

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Herb Schiffer: Das Narrenschiff. Museum Zitadelle Jülich, Inv.-Nr. 2007-0051.
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Ein farbenfrohes Bild, bei dem der Blick wohl schnell auf einem historischen Modell eines Holzbootes mit einem aufgeblähten Segel hängenbleibt, das allerdings frei am strahlend blauen, wolkenlosen Himmel schwebt. Es ist eng besetzt mit vier Personen, drei tragen eine Kopfbedeckung, die leicht als Narrenkappen zu erkennen sind, eine spielt Laute. Hinter diesem Spieler steht eine unbekleidete Frau mit hochgesteckter Frisur oder Hut. Die Person, die am Ruder sitzt, steuert nicht, sondern jongliert mit kleinen Kugeln oder Geldstücken.

Was macht dieses eigentliche Wassergefährt so hoch am Himmel? Unterhalb ist noch der volle Mond zu sehen am hellen Himmel, links vor dem Boot entfernt sich fliegend ein Vogel. Und für jeden Bewohner des Jülicher Landes sofort identifizierbar: Das Boot schwebt über dem Ostflügel der Zitadelle, von dem aber nur ein Ausschnitt und nur der obere Teil ins Bild ragt. Vielleicht jetzt erst fällt der Blick in die Bildecke links unten. Hier sind großformatig zwei Köpfe – dicht nebeneinander – angeschnitten, eine Krone auf dem Kopf der vorderen Figur, die Gesichter ausgerichtet zum Boot hin. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man: Auf beiden Gesichtern je ein Vogel, wie mit der Physiognomie verschmolzen. Die Augen von Mensch und Vogel liegen unmittelbar nebeneinander. Die Münder der Personen sind weit geöffnet, vor Staunen? Und wir als Betrachter? Sehen wir uns nicht – „stehen“ wir nicht – unmittelbar neben ihnen, auch staunend und fragend?

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Es gilt die Einladung – wie bei jedem Kunstwerk –, nach dem genauen Betrachten die eigenen Gedanken, die eigene Phantasie kreisen und laufen zu lassen und sich selbst dabei zu beobachten. Das ist interessant, macht Spaß und tut gut! Erst dann sollte man, kann man natürlich auch weitere Interpretationshilfen suchen. Aber zuerst genau hinsehen! Der Schreiber dieser Zeilen hatte z.B. das Bild schon oft und lange vor Augen, aber etwas übersehen: einen kleinen Affen. Haben Sie ihn entdeckt? Oder bei dem Mann am Steuerruder, der doch die Fahrtrichtung mitbestimmen müsste, er jongliert nicht nur, sondern blickt auch noch nach hinten. Lassen Sie sich und der eigenen Phantasie genügend Zeit!

Narren! Wer, was sind Narren? Ein schillernder Begriff, der im Laufe von Jahrhunderten mehrere Bedeutungsänderungen erfahren hat: vom Schimpfwort für Menschen mit körperlichen und geistigen Gebrechen und andere Menschengruppen, die ausgestoßen waren und mit Misstrauen betrachtet wurden, über den Dummkopf, der sich täuschen, irreführen lässt, weiter den eingebildeten Narren, dann den Spaßmacher in auffälliger Kleidung, der sich tolpatschig und ungeschickt verhält oder der intelligent und klug nur in diese Rolle schlüpft und den Menschen einen Spiegel vorhält, bis zum Berufsstand des Hofnarren an Fürstenhöfen, wo er auch unterhalten sollte, aber oft als einziger die Freiheit – Narrenfreiheit – hatte, dem Regierenden eine kritische Wahrheit vorzuhalten. Zahlreich sind die Abbildungen von unterschiedlichen Narren, Narrentypen bis hin zum Joker auf Spielkarten. Im Karneval spielen sie eine große Rolle und das besonders in südlichen Regionen. Auch auf die Theaterbühne sind sie gelangt mit z.B. der Commedia del’Arte und Opern wie Rigoletto oder Der Bajazzo.

Herb Schiffer, Das Narrenschiff, Öl auf Leinwand, 2007, 99,5 x 69,5 cm, Museum Zitadelle Jülich, Inv.-Nr. 2007-0051. Foto: Bernhard Dautzenberg

Das Motiv des Narrenschiffs ist in Literatur und darstellender Kunst ein altes Motiv. Schon bei Platon taucht es auf in seinen Abhandlungen „Der Staat“ im 6. Buch als ein manövrierunfähiges Gefährt mit inkompetenter Schiffsbesatzung. Eine weit wirksame Verbreitung hat es wohl gefunden in einem 1494 gedruckten Buch von Sebastian Brant: Eine spätmittelalterliche Moralsatire, wo in 112 Kapiteln menschliches Fehlverhalten, Missstände und Verfall der Sitten beschrieben werden. Also „Narrheit“ in allen menschlichen Bereichen wie Habsucht, Völlerei, Schwätzerei, Ehebruch usw., dagegen steht die Weisheit. Begleitende Illustrationen, meist Holzschnitte, zeigen ein völlig überladenes Schiff mit dicht an dicht stehenden Gestalten mit dem fiktiven Land Narragonien als Ziel:. Das Buch von Brant soll das erfolgreichste Buch vor der Reformation gewesen sein. Es hat mehrere Auflagen erlebt und auch vergleichbare Nachfolger gefunden. Außer den Abbildungen in diesen Büchern hat das Motiv Narrenschiff unzählige Variationen erfahren: von dem Gemälde des Hieronymus Bosch bis zu zeitgenössischen Gemälden und Karikaturen, auch in künstlerisch gestalteten Brunnen wie in Köln oder Nürnberg bis zu Liedern, unter denen vielleicht das bekannteste der Song von Reinhard Mey ist „Das Narrenschiff“. –Narrengeschichten als satirische Literatur sind Kritik des Zeitgeistes, wollen Belehrung ausüben, finden in der Karikatur, in der Übertreibung ein Mittel, das mit Humor ernsthafte Themen an- und ausspricht. Dazu gehören auch aus dem 16. Jahrhundert das Buch „Lob der Torheit“ von Erasmus von Rotterdam, „Till Eulenspiegel“ und „Die Schildbürger“.

Und wie interpretieren Sie jetzt mit diesem Hintergrundwissen das Gemälde von Herb Schiffer? Was passt, was passt nicht? Auf dem Gemälde sind doch alle sehr nett, freundlich, sympathische Figuren. Da möchte man vielleicht mitfahren, über den Dingen schweben, der „king“ sein, dem Kleinkram des Alltags enthoben und die Freiheit genießen. Was soll dieses Narrenschiff über der Zitadelle, über Jülich bedeuten und wer sind die Zuschauer unten und was denken und erwarten sie? Hat das Bild einen Bezug zur Gegenwart oder spielt es an auf die Zeit der Erbauung der Zitadelle? Oder beides? Oder……? „Die Gedanken sind frei…“! Lassen Sie ihnen freien Lauf! Sie haben Narrenfreiheit! – Das könnte jetzt auch einen spannenden Dialog ergeben, der Ihnen aber selbst überlassen bleiben soll, allein oder mit anderen Betrachtern.

Der Künstler Herb Schiffer, 1936 in Jülich geboren, hat hier auch lange gewohnt und gearbeitet, lebt heute in Düren. Stationen von Aus- und Weiterbildung und Wohnungen sind u.a.: Köln, Aachen, Paris, Brasilien, USA, Frankreich, Zweitwohnsitz in Italien, Lehrtätigkeiten an verschiedenen Einrichtungen und auch an der Kunstakademie in Heimbach. Neben freier Malerei studierte er Glasmalerei, man findet viele Glasfenster neben einigen privaten in Kirchen und öffentlichen Gebäuden. Im Raum Jülich ist er weithin bekannt und vielen auch persönlich begegnet durch jahrelange Mitarbeit und (Mit-)Ausstellungen im De Nickel Schuppen Koslar. Hier hat er auch Keramik-Kunstwerke geschaffen. Auch in der Umgebung von Jülich, wie in Düren, Aachen, Linnich, Heimbach waren mehrere Ausstellungen zu sehen und weit über diesen lokalen Bereich hinaus bis hin in Italien, Brasilien, Schweiz, USA. In Jülich gab es 2007 in der Schlosskapelle viele Werke zu sehen – darunter auch das hier vorgestellte, das das Museum Zitadelle danach erwerben konnte.

Bei all seinen künstlerischen Arbeiten fallen bei späteren Werken immer wieder mythologische Gestalten auf in ihren Bezügen zu Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Traum und Wirklichkeit, ausgeführt mit einer charakteristischen Haltung, Physiognomie und Farbigkeit, die der Betrachter sofort als Handschrift von Herb Schiffer erkennen kann. Große Anerkennung fand Schiffer u.a. durch mehrere Stipendien und Auszeichnungen, so auch 2011 durch den Kunstpreis des Kreises Düren. Das Museum Zitadelle besitzt mehrere Arbeiten von ihm, dazu gehört ein dauerhaft installiertes Glasfenster im Keller der Zitadelle „In memoriam November 1944“, eine Erinnerung an die Zerstörung der Stadt 1944.

Im nächsten Jahr feiert der Künstler seinen 85. Geburtstag und das Museum Zitadelle gratuliert mit einer Ausstellung zu seinem zeichnerischen Werk, einerseits als eigenständige Arbeiten und andererseits als Entwurf und Entwicklung seiner Gemälde.


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