Er selbst bezeichnet sich als Straßenkind – immer noch, auch mit 80 Jahren. Manfred Thomé, der gerne in und um Jülich auf Entdeckungstour geht und auch seine Meinung zu historischen wie aktuellen Themen zu Gehör bringt, feiert am 10. November seinen runden Geburtstag.
Als Hausgeburt kam Manfred Thomé mitten im Kriegsgeschehen in Brühl zur Welt, während Aachen erobert wurde, die Schlacht im Hürtgenwald tobte und Jülich evakuiert wurde. Der Grund: Seine Mutter hätte mit der Bahn zur nächstgelegenen Klinik fahren müssen, und der Gefahr wollte sie sich und das Kind nicht aussetzen. Schmunzelnd erzählt Manfred Thomé, dass er als Baby auf dem Weg in den schützenden Bunker in eine Pfütze gefallen sei. „Das hat man mir so erzählt.“ Daran kann er sich selbstredend nicht erinnern. Wohl aber an die ersten Friedensjahre, als er zwischen den Trümmern spielte und ein Panzerwrack im Brühler Schlosspark stand, an Männer, die im Krieg ihre Beine verloren hatten und sich auf Rollbrettern oder Autoreifen fortbewegten. Das erregte anfangs sein Mitleid, auch die Gespräche, die er dazu mitbekam. Sein Vater sprach wohl ganz anders. Ihm, der 1945 aus dem Krieg heimgekehrt war, war nach seinen Erlebnissen alles Preußisch-Militärische zuwider, sagt Manfred Thomé. Er selbst habe später – nach der Lektüre von Wassili Semjonowitsch Grossmans Buch „Stalingrad“ und Eugen Kogons Standardwerk „Der SS-Staat“ – erst vieles verstanden und auch sein Mitleid in Frage gestellt.
Gut erinnern kann sich der heute 80-Jährige auch an das Staunen, als der Vater 1948 neue Geldscheine in der Lohntüte fand. Sichtbares Zeichen der Währungsreform. Hätte er es verstanden, hätte er bestimmt gefragt, denn als sein besonderes Kennzeichen bis heute beschreibt Manfred Thomé seine Neugier: Wie Schaum auf das Bier kommt, wollte er als Knirps von seinem Vater wissen und stellte fragwürdige Untersuchungen an, etwa ob Kaninchen in der Badewanne schwimmen könnten. Vielleicht lässt sich so schnell verstehen, wie seine Grundschullehrerin zu dem Urteil kam: „Sein Betragen war nicht immer ohne Tadel.“ In dieser Zeit fingen die Jahre als „Straßenkind“ an, weil es dort viel mehr zu erleben und zu entdecken gab.
Mit 14 Jahren war das allerdings erst mal vorbei: Bei Bayer in Leverkusen trat er eine Chemielehre an, erlebte die Welt zwischen den großen Schornsteinen, Staub, Salzsäure und Schwefelsäure. Als einer der besten Lehrlinge strebte er nach mehr: Auf dem zweiten Bildungsweg erlangte Manfred Thomé die FH-Reife und kam so in den Gründerjahren der Ingenieurschule nach Jülich. Bei „Eisen-Willi“, „Massenpunkt“ und „Gilb“ – so die Spitznamen der lehrenden Bauräte – studierte der 25-Jährige. Naja, eigentlich erst ab dem 2. Semester, denn für die bessere internationale Anerkennung des FH-Ingenieurs wurde gestreikt – auch von Manfred Thomé. Er hatte das Glück, dass seine Angetraute, die er beim Tanzkurs kennen und lieben gelernt hatte („sie fühlte sich so gut an“, sagt er sich mit leisem Lächeln erinnernd), bei der KFA beschäftigt war und für das Einkommen sorgte. Später sollten sie im selben Unternehmen arbeiten – bis das erste der drei Thomé-Kinder geboren wurde.
Bis zur Pensionierung 2008 war er als Ingenieur Laborleiter für die Reaktorüberwachung zuständig. „Stolz bin ich mit meinem Beitrag zur Wiederinbetriebnahme von Dido.“ Außerdem war er Betriebsleiter Brennelementeabtransport und Auslieferung radioaktiver Medizinprodukte – also quasi dem Vorläufer von JEN.
Über die beruflichen Aktivitäten hinaus war und ist Jülich für Manfred Thomé auch in der Freizeitbeschäftigung Lebensmittelpunkt: Von hier aus hat er nicht nur mit dem Fahrrad und per Pedes die Landschaft erkundet – Stichwort Straßenkind, sondern sich auch mit den Weiten des Weltraums und der Geologie beschäftigt, etwa der Entstehung der Landschaft. Runde Kieselsteine sammelte er auf der Merscher Höhe und fand die Erkenntnis bestätigt, dass sie dort in grauer Vorzeit unter anderem ein Ausläufer der Maas hingespült hatte. Besonders intensiv beschäftigte sich der studierte Ingenieur mit der Jülicher Ringofenziegelei. Für seine dreijährige Forschungsarbeit, die in den Jülicher Geschichtsblättern 87 veröffentlicht wurde, erhielt er 2021 den Helmut A. Crous Geschichtspreis der Region Aachen. Und ein neues Werk ist „in Arbeit“. Er geht der Geschichte einer historisch geheimnisvollen Metallplatte auf der Merscher Höhe nach. Inzwischen hat er sie gereinigt und schon Recherchen betrieben. So viel sei verraten: Die Platte steht wohl mit der Schützengeschichte Jülichs im Zusammenhang und dürfte um die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren.
Die Jülicher dürfen also noch einiges erwarten – und sei es, dass das „Straßenkind“ Eingaben bei der Stadt Jülich zum Thema Verkehrskonzept oder Vorschläge für eine Fahrradstraße macht.