Wie kommt ein im beschaulichen Jülich aufgewachsener Junge dazu, Verteidiger der Entrechteten auf der Welt zu werden?
Jülich mag zwar in den 1970er Jahren ein eher beschaulicher Ort gewesen sein, doch es hatte auch seine Vorteile. Denn durch die damalige Kernforschungsanlage hatte die Stadt immer internationale Kontakte, Wissenschaftler aus aller Welt kamen zu Besuch, und Jülicher besuchten andere Orte in der Welt. Zum anderen machte uns die Lage im Dreiländereck zwischen den Niederlanden, Belgien und Deutschland zu einer der europäischsten Gegenden im damaligen Deutschland. Für mich war auch der relativ offene Schulunterricht im Gymnasium Zitadelle sehr förderlich. Ebenso wie ich es an der Universität Bonn genoss, nicht nur nach knallharten Stundenplänen und in einem vollkommen verschulten Studiengang zu studieren. Das eröffnete Möglichkeiten, andere Fächer kennenzulernen und sich außerhalb der Universität politisch zu engagieren.
Warum haben Sie das Buch „Die konkrete Utopie der Menschenrechte“ geschrieben?
Bisher habe ich einige Bücher über die juristische Menschenrechtsarbeit geschrieben und dabei insbesondere die juristischen Aspekte abgehandelt. Jetzt wollte ich mit meinem neuen Buch „Die konkrete Utopie der Menschenrechte“ meinen und unseren Horizont etwas erweitern und habe versucht, das Typische von Menschenrechtsarbeit aufzubrechen und den Einsatz in ein größeres politisches Spektrum einzuordnen.
Worum geht es darin?
Es ging mir zunächst darum zu begreifen, dass die aktuelle pandemische Krise ebenso wenig wie die andauernden Klima- und Währungs- / Eurokrisen nicht aus dem Nichts kam, sondern mit den strukturellen Problemen der Weltwirtschaftsordnung zusammenhing. In einer Zeit zunehmender sozialer Ungleichheit, sowohl im nationalen als auch im internationalen Bereich, wollte ich deutlich machen, dass Menschenrechte nicht nur ein Nischenthema und nicht nur von Mittelschichtlern wahrgenommen und verteidigt werden dürfen, sondern Menschenrechte sollte alle Menschen überall angehen, und alle Menschen sollten überall alle Menschenrechte haben.
Warum sollte man es lesen?
Mein Buch versucht, ein Verständnis dafür zu schaffen, dass man in der heutigen Zeit angesichts der sehr komplexen Weltprobleme global denken, also die Situation auf einer globalen Ebene analysieren und auch global handeln muss. Das bedeutet, dass man nicht die lokale gegen die globale Ebene ausspielen darf. Für die Menschenrechte und für die Rechte von Menschen kann man sich überall und jeder auf seine Weise einsetzen. Auch sollte man die soziale Frage, also die Verbesserung der sozialen Situation von vielen Menschen nicht gegen das Eintreten für Menschenrechte von Gruppen ausspielen, die unter besonderer spezifischer Verfolgung leiden.
Vor allem aber möchte ich auch Mut für die Zukunft machen und eine unter vielen, aber sehr konkrete Utopie vorstellen, die der Menschenrechte, die es uns erlaubt, über die Utopie einer gerechten Gesellschaft nachzudenken, gleichzeitig aber auch im Hier und Jetzt und auch im Kleinen zu handeln.
Der Mensch Wolfgang Kaleck scheint vielseitig interessiert zu sein. Das neue Buch strotzt nur so vor Referenzen aus völlig unterschiedlichen Genres: aus Philosophie, Politik, Soziologie, Literatur, Kunst und Musik. Die Zitate reichen von Adorno und Camus über Walter Benjamin und Paul Klee bis Karl Marx und Jürgen Habermas sowie Hölderlin, Martin Luther King, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und natürlich allen voran Ernst Bloch. Wie würde er sich in maximal zehn Adjektiven selbst beschreiben?
Naja, wie soll man sich denn selbst beschreiben? Ich finde es schon sehr schön, wenn der Fragende mir bescheinigt, vielseitig interessiert zu sein. Vielleicht gehört zu dem intellektuellen Interesse schlicht und einfach noch die Lust am Leben – und das meine ich gerade in der aktuellen pandemischen Situation; also die Lust daran, es sich gemeinsam mit anderen im Hier und Jetzt gutgehen zu lassen und dabei noch verantwortlich zu leben und zu arbeiten.
Wie findet er überhaupt Zeit, um sich seinen Interessen zu widmen?
Da meine Interessen, die vielen Begegnungen und Reisen und die Arbeit dankenswerterweise ineinanderfließen, mache ich mir darum wenig Sorgen.
Wenn das Prinzip Menschenrecht eine Utopie darstellt – woraus lässt sich eine Motivation ziehen, dennoch dafür zu kämpfen? Was ist dann Ihre Triebfeder?
Meine vielleicht größte Motivation rührt daher, dass ich die Gelegenheiten hatte, in vielen Weltgegenden umherreisen zu können. Dabei hat mich am meisten beeindruckt, dass ich fast überall auf Menschen gestoßen bin, die unter unglaublich schwierigen Bedingungen für ihre eigenen und die Rechte anderer Menschen eintraten und dabei noch die besagte Lust am Leben und ihren Optimismus nie verloren hatten. Es betrübt mich daher, wenn manche in Deutschland sich über vergleichsweise geringe Schwierigkeiten beklagen und sich durch diese daran gehindert sehen, optimistisch und lustvoll zu leben.
Wenn Menschenrechte ein Konzept ist, das sich überlebt hat, was tritt an deren Stelle?
Das muss ein Missverständnis sein: Ich halte die Menschenrechte als Konzept überhaupt nicht für überlebt, sondern für eine sehr fruchtbare Quelle für sowohl konkretes Handeln. Man kann sie jederzeit und überall – natürlich unter sehr wechselhaften Bedingungen einklagen, und gleichzeitig verkörpern sie ein Ideal einer sozialen und gerechten Weltgesellschaft. Den menschenrechtlichen Fortschritt sollte man nicht an einem Idealzustand messen. Wichtig ist die Feststellung, dass die menschenrechtliche Entwicklung nicht von oben verordnet oder gewährt wird, sondern vor allem ein Resultat von Aktivismus und Kämpfen ist.
Wenn die Utopie der Menschenrechte umgesetzt ist, benötigt die Welt keine Rechtsanwälte mehr. Was würde Wolfgang Kaleck dann tun?
Kaum einer wäre glücklicher als ich, wenn die Welt keine Rechtsanwälte mehr benötigte. Dann könnte ich mich voll auf das Kochen, Essen und Trinken, das Musikhören, Lesen, Fußballschauen und Wandern konzentrieren.
Eine Ihrer Aussagen im Buch lautet: „Meine Bürde, solche Berichte aus erster Hand zu hören, ist zugleich mein Privileg.“ Fluch und Segen: Wie viel Philanthropie benötigt Ihre Arbeit? Wie viel davon kann sie maximal ertragen?
Auch ich bin dafür, eine möglichst objektive und tiefgehende Analyse von Fakten dem Handeln vorzuschalten. Angesichts der Tatsache, dass es vielen Menschen auf der Welt schlicht und einfach dreckig geht, ist aber auch die Parteinahme für diese Menschen eine wichtige Sache. Dieser Sache habe ich mich verschrieben. Ich bin dabei nicht von dem Glauben beseelt, mich für andere aufopfern zu müssen, denke aber trotzdem, dass es notwendig ist, ein Gefühl für internationale Solidarität zu entwickeln. Die aktuelle pandemische Krise hat gezeigt, dass, wenn internationale Solidarität nicht aus Überzeugung gespeist ist, so doch zumindest von Pragmatismus bestimmt sein sollte.
Hilft Ihrer Meinung nach der Lockdown beziehungsweise die Corona-Krise eher repressiven populistischen und rechts gerichteten Mächten oder Verfechtern von Menschenrechten, der sozialen Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung?
Leider haben viele Regierungen auf der ganzen Welt nach dem Motto gehandelt: Lass keine Krise ungenutzt verstreichen, und haben unter dem Deckmantel der Corona-Krise ihre politischen Ideen zum Teil sehr repressiv verfochten. Und was noch viel schlimmer ist: Einmal mehr hat sich gezeigt, dass eben nicht alle Menschen in einer mehr oder weniger gleichen Situation leben, sondern viele im globalen Süden lebende Menschen oder auch Geflüchtete ungleich härter betroffen sind und auch die Chancen zu überleben in dieser Welt stark davon abhängen, wo man geboren ist, und nicht, wie man sich im Leben verhält.
Welche Auswirkung hat der Beschluss zur sogenannten „Quellen-TKÜ“, dem „Staatstrojaner“, auf Ihre Arbeit?
Mit Besorgnis sehe ich aktuelle Tendenzen zu mehr Überwachung. Nicht zuletzt durch den von mir in Europa vertretenen Edward Snowden haben wir ja vor sieben Jahren erfahren, welches Ausmaß und welche Tiefe die Überwachung durch staatliche Geheimdienste, keineswegs nur den US-amerikanischen, und durch private Unternehmen hat. In der aktuellen Krise scheint mir dieses Wissen vollkommen verloren zu gehen. Wie immer werden krisenhafte Situationen von Staatsapparaten auch dazu benutzt, um eigene Kompetenzen zum Teil dramatisch zu erhöhen. Vor allem aber die unreflektierte Nutzung von digitaler Kommunikation ohne hinreichenden Schutz, auch im Gesundheitswesen, beängstigt mich sehr.
Zur Person: Wolfgang Kaleck
besuchte das Gymnasium Zitadelle der Stadt Jülich, leistete danach seinen Zivildienst in Köln ab und studierte Jura in Bonn. Danach zog er zum Rechtsreferendariat nach Berlin. Dort war er pünktlich zum Mauerfall am Ort des dramatischen Geschehens und baute danach gemeinsam mit anderen Kollegen die Kanzlei Hummel, Kaleck Rechtsanwälte auf – und zwar in Ostberlin, im damaligen Hauptsitz der DDR-Bürgerrechtsbewegung im Haus der Demokratie.
Er war vornehmlich als Strafverteidiger und dann zunehmend als Nebenklägervertreter gegen rechtsradikale Straftäter aktiv und baute dann ab 2008 die juristische Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) auf. Seinen beruflichen Weg hat er in Buchform 2015 veröffentlicht („Mit Recht gegen die Macht“, erschienen im Hanser Verlag).
BUCHINFORMATION
Wolfgang Kaleck: Die konkrete Utopie der Menschenrechte | gebunden | 176 Seiten | S. Fischer Verlag | ISBN-978-3103970647 | 21,- Euro