Jedoch – so hatte der Herzog das mit seiner Themenvorgabe wohl eher nicht gemeint. Also erstmal Begriffsklärung, damit wir nicht schon von Anfang an aneinander vorbeischreiben und – lesen. Das Wort stammt mal wieder aus dem Lateinischen: fabula. Aesop ihr bekanntester Dichter. Der gehört allerdings wohl selbst eher in das Reich der Fabel, da er historisch / persönlich nicht festzumachen ist, sondern andere Dichter ihre Geschichtchen unter seinem Namen veröffentlichten… Immerhin ein literarisches Erfolgsmodell, sonst hätte es sich nicht so lange ge- und erhalten. Neben ihrem unterhaltsam-belehrenden Inhalt zeitigte sie auch eine frühe Form Zensur umgehender Satire: Menschen (meist wusste man, wer gemeint war) werden durch sie stellvertretende Tiere dar- (und gerne auch bloß-) gestellt, und die benehmen sich so menschlich, dass es der natürlichen „Tierischkeit“ dieser Stellvertreterwesen oft alles andere als gerecht wurde und wird. Die geschichtlich Gemeinten sind ihrer Selbstüberschätzung zum Trotz längst vergessen, die Geschichten allerdings haben in ihrer Gültigkeit oder wenigstens dank ihres Unterhaltungswerts überdauert. Und so haben auch und besonders heute selbst die, die weder einen Fuchs noch ein Schaf je persönlich erlebt haben, ersteren als schlau und letzteres als blöd in ihrem sozial-archetypischen Fundus. Vom bösen Wolf ganz abgesehen. Doch worum ging und geht es der Fabel spätestens seit sie mit Lessing und La Fontaine (nein, nicht Oskar, der hat dankenswerterweise ausgefabelt) Einzug in unsere Literatur hielt? Um moralische Erbauung bis Bildung.
Ääh, wer will das denn? Das Pöblikum (nein, kein Tippfehler – das gab es schon immer und hieß auch damals schon Öffentlichkeit – ich nehme mir die Freiheit, Sie kurz und hoffentlich sinnstiftend durch diese Kalauerei zu irritieren) – also: Das Publikum mochte schon damals keine länger währenden, es zu gedanklicher Aktivität zwingenden Exkurse. Lieber zügiger Gag, als zu lange auf etwas zu warten, das man nur belacht, weil der neben einem Sitzende es tut. So mussten sich die Fabeldichter möglichst kurz fassen und es witzig auf den Punkt bringen. Man erkennt den Anderen und kann über dessen Seltsamkeit hämisch lachen. Das bedachtsame Schmunzeln stellt sich so leicht nicht ein. Ein vielleicht noch bekanntes Beispiel sei gegeben: Dem Raben fällt der wo auch immer ergatterte Käse aus dem Schnabel, als er seinen „Gesang“ ertönen lassen will, weil der Fuchs diesen hoch lobend zu hören wünscht. Der Fuchs (mögen Füchse überhaupt Käse?) verzehrt die Beute genüsslich und kümmert sich nicht weiter um das Gekrächze… Da ist doch kein Leser der Rabe. Alles Füchse. Die eigentliche „Moral“: „Sei nicht so doof, Dich Dir schmeicheln lassend zu überschätzen“, fällt mit dem Käse zu Boden. Schlauheit (wohl eher Hintertriebenheit) versus Eitelkeit. Naja, schon früher zählten eben der Lacher – und die Häme. Fabelhaft ambivalent: In die offizielle bedauernde Anteilnahme schleicht sich ein Hat´s-doch-auch-mal-den-Richtigen-getroffen ein. Das macht uns und die Fabel so menschlich. Genüsslich verzehren wir den Medien-Käse, der einem Super-Raben oder -Star aus dem Schnabel fällt, als Füchse auf dem Sofa. Und je höher die Trauben hängen (noch ein Fabelzitat), desto saurer reden wir sie uns, heimlich begeistert, dass andere auch nicht dran kommen. Statt einfach Erreichbares und uns Entsprechendes zu nutzen, schielen wir Fabeltiere in Höhen, in denen etwas wächst, was uns weder schmeckt noch satt macht. Aber haben würde man es eben in aller Unnötigkeit doch gerne. Und sei es nur, weil irgendwelche seltsamen Vögel es fressen. Da darf man nicht zurückstehen. Wer schluckt wirklich gerne, gar genussvoll glibberige, salzige Gallerte? Na, nennen wir es Austern oder Kaviar und machen es teuer, dann klappt das schon.
Da fällt mir noch eine Fabel ein, die sich diesem Thema allerdings relativierend widmet: der Besuch der Landmaus bei der Stadtmaus. Zunächst begeistert von der Speisekammer ihrer urbanen Kollegin, flüchtet sie nach Katzen-, Menschenattacken und Fallen wieder zurück aufs Land, auf das Feld, dessen Unsicherheiten ihr überschaubar sind. Verständnislos bleibt die Stadtmaus in ihrem gefährlichen Überangebot – und wird vergiftet. Okee, die letzten drei Worte habe ich jetzt eigenmächtig ergänzt, doch nicht aus der Landluft gegriffen. Die gibt es wohl eher nicht mehr. Doch ich wollte eben gerne nur auch mal etwas Fabelhaftes schreiben.
Ihre Geduld hinreichend strapaziert habend bedanke ich mich, dass Sie diese mein Fabuliererei durchgehalten haben. Und die Moral von der Geschicht: Man weiß sie, aber will sie nicht. Fabelhaft verdrängt.