Start featured Eine Festung, eine Säge und viel Ingenieurskunst

Eine Festung, eine Säge und viel Ingenieurskunst

Die „Zitadelle“ steht in diesem Jahr im ganz besonderen Fokus der Aufmerksamkeit – denn für die Jülicher ist sie aus ihrem Alltag gar nicht wegzudenken. Und was zum Alltag gehört, verdient es, hin und wieder ganz neu betrachtet zu werden: 50 Jahre Gymnasium Zitadelle und 450 Jahre Festungsjubiläum sind gleich zwei Gründe, aus einem ganz anderen Blickwinkel auf die herausragende Baukunst dieses beinahe einzigartigen Denkmals zu schauen, eben weil es so fest zum Stadtbild gehört.

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Das Sägeblatt im Keller der Zitadelle erinnert an den spektakulären Coup der Ingenieure. Foto: Sonja Neukirchen
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Wer erinnert sich, dass die im 16. Jahrhundert erbaute Festung seit Anfang der achtziger Jahre zu einem Objekt höchster Ingenieurskunst geworden ist – und damit die Kunst des Bauherrn Allessandro Pasqualini eine untrennbare Einheit mit dem technischen Know How neuzeitlicher Ingenieure eingegangen ist? Wie ein Augapfel wird sie im Prinzip seitdem rund um die Uhr von modernster Technik überwacht. Mit welcher Hingabe und technischen Akribie das geschieht, kann man nur an den leuchtenden Augen des Ingenieurs ablesen, der diese Aufgabe beim RWE kürzlich übernommen hat: Thomas Jelen, Bauingenieur aus Jülich, ist jetzt mit der regelmäßigen technischen Überwachung betraut und erklärt gerne und hingebungsvoll, was damals geschah, nachdem das Bauwerk – positioniert auf einer damals unbekannten tektonischen Störung – plötzlich Risse bekam, und wie es heute um das renommierte Jülicher Bauwerk steht.

Schon 1979 seien erste Schäden festgestellt worden, die man aber noch gar nicht in Zusammenhang mit dem Tagebau gebracht hatte. Später stellte sich heraus: Die Risse waren entstanden, weil im Zuge der Bergbauarbeiten im rheinischen Revier die Rheinbraun AG das Grundwasser abgesenkt hatte – ein für den Tagebau notwendiger Schritt, der normalerweise für Gebäude harmlos ist, aber nicht wenn dieses wie die Zitadelle auf einem tektonischen Sprung platziert ist.

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Dieser sogenannte „Rursprung“ verläuft von Nordwesten nach Südosten diagonal durch die Festungsanlage, was schon seit Anfang der achtziger Jahre umfangreiche Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten erforderlich machte. Als die Scheiben des Pädagogischen Zentrums, kurz PZ, dann plötzlich Risse hatten, wurde es auch für die Schüler sichtbar. „Die Zitadelle galt in den achtziger Jahren als Objekt mit den größten Bergschäden“, erklärt Jacek Grubba, Historiker beim Museum Zitadelle.

Karte der Bergschäden an der Zitadelle. Foto: Sonja Neukirchen

Was dann geschah, daran erinnert sich Frauke Springer, damals Schülerin der neunten Klasse des Gymnasiums, noch gut: „Nach den Sommerferien lag ein großes weißes Zelt neben dem PZ. Wie ein Bierzelt“, lacht sie. Der moderne Südflügel der Schule war aufgerissen, und man konnte sogenannte Federkörper erkennen – eine der Techniken, die zum Stützen des absinkenden Teils angewendet werden. Das Zelt war der Ersatz für das PZ, also der Pausenraum, und sei sehr schnell in „BZ“ umgetauft wurden, was für „Bierzelt“ stehe. Diese Atmosphäre sei besonders gewesen, weil sie so an Maifest und Schützenfest erinnert habe, so Springer. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr das Zelt, weil ein Verehrer ihr einen Schuh vom Fuß geklaut und ihn in dem Zelt versteckt hatte. Sie musste dann mit nur einem Ballerina weiter am Unterricht teilnehmen, erinnert sie sich an ihre private „Aschenputtel“-Geschichte. Was aus dem „Prinz“ mit dem gestohlenen Schuh wurde, erzählt sie nicht. Mit ähnlichen Anekdoten erinnern sich sicher auch noch andere Schüler an die Zeit zurück, die irgendwie besonders gewesen sei, so Springer. Auch der Sportplatz musste damals gedreht werden, erläutert Ingenieur Jelen noch eine Veränderung für die Schülerinnen und Schüler damals, die plötzlich wegen der Niveauverschiebungen im Boden bergauf beziehungsweise bergab liefen.

Längst ist das „Bierzelt“ Vergangenheit, nicht aber der Alltag des „Abstützens“, der seitdem zu einer Gebäuderoutine geworden ist, die scheinbar jedoch nie langweilig wird und eine Art „Sondergeschichte“ der Zitadelle darstellt, die in den Museumsführungen jedoch selten intensiver beleuchtet wird, auch wenn die Besichtigung der Federkörper unter dem Südflügel eindrucksvoll ist. Es erfordert allerdings ein wenig Entdeckergeist, die schmale Treppe zu erklimmen, um einen Blick auf die Federkörper in einem Raum unterhalb des Südflügels zu erhaschen. Doch das lohnt sich.

Statt PZ gab es das „BZ“. Foto: Archiv

Die Ingenieurskunst, die für den Erhalt des Kulturguts „Zitadelle“ im Rheinischen Braunkohlerevier sorgt, kann man ganz grob in drei verschiedene Techniken unterteilen: Bei dem in den sechziger Jahren erbauten und damit neuzeitlichen Südflügel, einem Teil des Schulgebäudes, werden die oben genannten Federkörper eingesetzt. Während die historischen Teile weitgehend aus Feldbrandsteinen gebaut sind, handelt es sich hier um Beton. Dies eröffnete die Möglichkeit, den absinkenden Teil des Gebäudes durchzuschneiden und von dem nicht absinkenden Teil durch eine Trennfuge zu trennen. Wie ein Laib Brot sei das Gebäude durchgesägt worden, und zwar mit einem riesigen Diamantsägeblatt, erklärt Jelen. Doch kaum jemand kann sich vorstellen, was alles getan werden musste, um zwei unabhängige Gebäudeteile entstehen zu lassen. „Das Ingenieurige daran war: Was bedeutet es, wenn man das Gebäude durchtrennt?“, kommentiert Jelen auf einer Spezial-Führung entlang der bedeutsamen „Sanierungsstellen“. Die Dachhaut musste getrennt werden und trotzdem dicht bleiben, Waschbecken, Abwasserrohre verlegt, Fluchtwege mit extra Stufen versehen und wegen des Ausgleichs des Höhenunterschieds mit Beleuchtung ausgestattet werden. Heizungsrohre musste flexibel gestaltet werden, und natürlich seien komplett neue Rauman- und abschlüsse geschaffen worden. „Die Trennung war nicht einfach, das Brot durchzuschneiden, sondern alles musste von Anfang an sauber durchgeplant sein, damit das Gebäude bewegungsfähig und dessen Infrastruktur intakt bleibt“, weiß Jelen auch von seinem Vorgänger Helmut Stralek, der nun kurz vor seiner Rente steht, aber gerne sein Wissen teilt. „Für Jülich war damals die Situation „Bergschaden“ neu. Die Aufregung war groß“, erinnert er sich an die Stimmungslage in der Mitte der Achtziger. Horizontale und auch vertikale Anteile des Gebäudes waren verschoben, und diese Bewegungen mussten ausgeglichen werden. Im Grunde seien also beim Durchschneiden zwei Gebäude entstanden. Und das kann man auch sehen, wenn man vor dem Gebäude steht: Zwei unterschiedliche Niveaus sind sichtbar.

Federn sollen die Erdbewegungen abfangen. Foto: Sonja Neukirchen

Bei der Sicherung mit Federkörpern handelt es sich um eine sogenannte aktive Sicherung, erläutert Stralek. Die eine Seite des Gebäudes gehe kontrolliert runter, während die andere Seite kontrolliert über Federkörper gestützt werde, ergänzt Jelen. Wenn die Federkörper unter dem abgestützten Teil nicht mehr unter Spannung stehen, werden Stahlplatten untergelegt, um die Federkörper wieder auf Spannung zu setzen. Die Federkörper glichen den Verlust der Bodenkraft aus, imitieren also im Prinzip den Gegendruck des Bodens. Das alles werde per Modem und elektronisch überwacht, so Jelen. Es sei eine 70 Millimeter Hebung plus vorsorglich 35 Millimeter Überhebung gemacht worden. Dabei sei es sehr wichtig abzuschätzen, wieviel Verformung das Gebäude zulasse. „Wir haben schon viele Gebäude gesichert“, so Stralek. Man habe dabei die Federkörper aus dem untertägigen Tagebau des Ruhrgebietes auf das Gebäude und seine besonderen Bedürfnisse übertragen, erklärt der Ingenieur.

Er erläuterte auch die passive Sicherungstechnik, die bei den historischen Gebäudeteilen zum Tragen kommt, bei denen man anders vorgehen müsse: Hier würden Umformungen zugelassen, um anschließend den Zustand wiederherzustellen. Hier ist das Verpressen von Rissen zu nennen, die an den historischen Teilen des Gebäudes entstanden sind. Für dieses Verpressverfahren werde ein spezieller „Zitadellen-Mörtel“ verwendet. 20 Zentimeter tiefe Bohrungen wurden in das Mauerwerk geführt, die anschließend mit Injektionsstutzen versehen wurden. In die Hohlräume wurde dieser „Trasskalk“ hineingepresst. Diese Methode sei besonders substanzschonend, was seit 1984 besonders wichtig wurde, als die Zitadelle in die Denkmalliste aufgenommen wurde und das Rheinische Amt für Denkmalpflege plötzlich entscheidend mitzureden hatte. Seitdem handele es sich um Bauingenieurleistung unter Denkmalschutzaspekten, was nochmals eine ganz besondere Herausforderung darstelle, so Stralek.

Mit bloßem Auge kann man manche „Versetzung“ an der Zitadellenmauer sehen. Foto: Sonja Neukirchen

Eine dritte Variante der Sicherung wurde beim PZ angewendet, die nicht weniger faszinierend ist: Die Dachkonstruktion des PZs sei einschließlich der Fassade komplett an vier Säulen aufgehängt worden und verhalte sich damit flexibel zum Sockel, erklärt Jelen eine weitere Sicherungsvariante. Im Boden verbergen sich unter dem PZ hydraulische Pressen. Das Erdreich sei hier entfernt worden. „Hier steckt soviel Ingenieur-Know-how drin, und das sieht man nicht, das ist das Geniale daran“, erzählt Jelen begeistert.

Das Ganze sei natürlich kostspielig gewesen. Aber langfristig sei das Gebäude sogar besser vor Erdbeben geschützt, da es in seinen fragilen Teilen vom Erdreich abgekoppelt worden sei, und damit sicherer. „Der Tagebau ist zur Ruhe gekommen. Es tut sich tektonisch sehr wenig“, ergänzt Jelen. Es gehe nur noch um Wartung und Erhaltung. Er präsentiert dazu auch die sogenannten „Rissmonitore“, kleine Plexiglasscheiben mit Fadenkreuz, die in die Feldbrandsteine eingelassen sind, um selbst kleinste Abweichungen in Millimetergenauigkeit ablesen zu können. Setzungsdifferenzen würden alle vier Jahre gemessen. Dazu sind an verschiedenen Teilen des Gebäudes auch sogenannte Höhenmessbolzen eingelassen. Es gebe eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen der Stadt, der Museumsverwaltung und dem RWE, lobt er. Jelen grüßt hier und da die fleißigen Mitarbeiter, die sich um das Wohl von Schule und Gebäude kümmern. Man merkt: Es ist ein eingespieltes Team, das sich hier fast unbemerkt im Hintergrund um eine sehr wichtige Aufgabe kümmert: den Erhalt eines eindrucksvollen historischen Gebäudes für die Zukunft.


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