Start featured Unbedingt nicht lesen – speziell beim Warten…

Unbedingt nicht lesen – speziell beim Warten…

Erst gestern musste ich mal wieder einer jungen Frau ausweichen, die gedankenverloren in ihr Smartphone vertieft fast in mich hineingelaufen wäre. Sie trug diese weißen Ohrimplantate, hörte Musik oder telefonierte, spielte vielleicht, hat E-Mails gelesen oder gerade bei Amazon eingekauft.

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Grafik: Daniel Grasmeier
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Wer weiß es? Sie war auf jeden Fall in ihrer eigenen virtuellen Weltglocke unterwegs und vollkommen abgelenkt. In einigen Großstädten werden mittlerweile leuchtende Markierungen an gefährlichen Straßenkreuzungen auf den Boden gemalt oder wild blinkende LEDs in den Boden eingelassen, weil dieser Menschentyp scheinbar einfach weiterläuft und von Bussen, Fahrrädern oder Autos erfasst wird oder schwere Auffahrunfälle verursacht. Diese optischen Airbags sollen das vermeiden. Hoffentlich hilft es. Ansonsten hat die digitale Transformation die biologische Theorie der natürlichen Selektion ergänzt, komplementiert, komplettiert.

Egal, wo man hinschaut, zwei von drei Menschen haben heute ein smartes Telefon in der Hand. Da, wo man früher gelesen hat. Das war dann auch automatisch weniger gefährlich. An Straßenkreuzungen. Gelesen wurde an der Bushaltestelle, im Wartezimmer, in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit, zu Hause sogar beim Frühstück oder vor dem Einschlafen im Bett. Am häufigsten waren es Tageszeitungen, Wochenmagazine oder sogar Bücher.

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Tatsächlich damals in jeder Zeitung, in jedem Magazin halb-, viertel-, oder ganzseitig, manchmal auch nur im 10 x 10 Format zum Zeitvertreib Kreuzworträtsel. Das dann ehrgeizig lückenlos auszufüllen, war Gripsgymnastik. Manchmal lockten interessante Preise, oder es reichte einfach aus, um sich damit beim Warten oder zur Entspannung die Zeit zu vertreiben. Groß war die Enttäuschung, wenn beim Arzt oder beim Friseur schon alles ausgefüllt war. Sie merken schon. Auch Kreuzworträtseln kann ein Trieb sein. Behaupte ich.

Auf www.kreuzwortraetsel.de/frage/trieb gibt es 103 – in Worten: einhundertdrei alternative Lösungsworte für „Trieb“! Und diese Lösungsvorschläge haben von vier bis neunzehn Buchstaben.

„Manie“. Übrigens ist auch „Durst“ eine der Top Lösungen für Trieb, je länger ich darüber nachgedacht habe, umso einleuchtender. Speziell in Kombination mit frisch gezapftem Bier und einer Theke.

Bei den Worten mit vier Buchstaben stehen ganz vorne „Reis“, „Reiz“ und „Lust“. Und so geht das weiter bis zum Ende der Liste dem gemeinen „Pflanzenschoessling“, eben dem Wort mit neunzehn Buchstaben. 103 Worte – also ein wirklich breites Spektrum – für das doch recht ernüchternde Wort Trieb. Der folgende Satz zeigt, wie häufig wir einem Trieb im Alltag begegnen: Wenn wir beim Länderspiel Deutschland gegen Nordmazedonien das 1:2 in der 85. Minute zum „Anlass“ nehmen würden und dem „Drang“ folgten, den Fernseher aus dem Fenster zu werfen, ist das der „Reiz“, uns im „Affekt“ abzureagieren – würden wir praktisch vier Trieben gefolgt sein.

„Instinkt“ ist auch in der 103er Liste. Mir kommt bei „Instinkt“ immer ein Eichhörnchen in den Sinn. Was macht ein Eichhörnchen in jedem Winter? Horten – also Vorräte anlegen. Exakt das haben wir letztes Jahr im März auch getan. Obwohl in allen Medien rauf und runter gepredigt wurde: Es gibt genug Toilettenpapier, es gibt genug Hefe, es gibt genug Nudeln… Jetzt mal Augen zu machen und sich vorstellen, da brüllt einer von unten rauf: Nudeln! Hefe! Klopapier! Dem Eichhörnchen sagt keiner: „Du musst horten.“ Trotzdem macht es das. Da brüllt scheinbar auch einer. Wir horteten, obwohl uns gesagt wurde, wir sollten nicht horten! „Instinkt“ Neandertaler! Kann man scheinbar nix gegen machen.

Sehr chic finde ich das lateinische Wort „Appetenz“. Das bedeutet nämlich nichts anderes als Trieb, also jede Form des Verlangens. Weil Rom und Jülich von den Römern erst richtig kultiviert wurde, sollte uns das liegen. Mir kommt Monty Python in den Sinn. „Ich spüre heute Abend eine gewisse Appetenz, in den Pub zu gehen!“, würde in „Das Leben des Brian“ passen – dort durch Michael Palins Synchronsprecher Harry Wüstenhagen als Pontius Pilatus köstlich gesprochen. Fände ich oberklasse.
Hoffentlich können wir das bald mal so sagen, vielleicht jetzt schon mal üpen, hihihi?

Es gibt auch sehr viele Trieb-Begriffe aus der Botanik in der Liste. Von „Knospe“ über „Spross“ bis zum „Ableger“ und „Setzling“. In diesem Bereich wird nicht mit Varianten gespart. Gärtner sind somit Triebtäter im positiven Sinne. Reinhard Mey hatte recht. Der Mörder ist immer… Es gibt den „Schössling“, den „Sprössling“, den „Sprösling“ und den „Pflänzling“. Den einfachen „Zweig“ und die „Rispe“.

Ein weites Feld bieten auch die Liebe und die Leidenschaft (die beide nicht dazugehören). Von purer „Fleischeslust“ zur „Begehrlichkeit“ über „Reiz“ und „Lust“, von der „Erotik“ zur „Libido“, der „Wollust“ und „Wallung“. Ganz zu schweigen von der „Erregung“ der „Gelüste“ und dem „Begehren“ der „Begierde“. Fast jeder einzelne Begriff hätte eine mutige HERZOG Ausgabe verdient. Wie sieht es aus, Kollegen?

Das bildungssprachliche Substantiv „Impetus“ aus dem Lateinischen ist auch dabei. Es ist die Bezeichnung eines inneren oder äußeren Antriebs, Anstoßes oder „Impulses“. Es wird als eine Art Anfangsenergie eines gesamten Prozesses beschrieben. Der „Impetus“ ist aber auch eine Tanzfigur im langsamen Walzer, Slowfox oder Quickstep. Kann man wissen, muss man aber nicht. „Ich spüre gerade einen starken inneren ‚Impetus‘, der mich Richtung Bastei, ähhh Pastei lenkt!“ Auch das, finde ich, ist eine sehr elegante Formulierung für eine*n stolze*n Jülicher B(P)ürger*in im Sinne Roms, die klar und eindeutig ist. Pontius lässt grüßen…


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