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Bitte nicht!

Bitte

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Bitte | Grafik: Agentur Lamechky+ / Sophie Dohmen
Bitte | Grafik: Agentur Lamechky+ / Sophie Dohmen
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2014. Montag. Marktplatz. Macchiato.

Ich wartete. Wieder einmal. Hundert- nein tausendmal hatte ich ihm gesagt, dass mich seine Unpünktlichkeit Stunden meiner eigenen Zeit kosten würde. Jedesmal bat ich ihn pünktlich zu kommen, denn ich hasse es zu warten. Warten macht mich krank. Und so saß ich dort und merkte, wie die altbekannten Muster und Gedanken ineinander griffen und der Prozess begann und war nicht mehr zu stoppen. Meine Freude auf unser rituelles Treffen an jenen Montagen auf dem Marktplatz war wieder weg, meine gute Stimmung löste sich in Sekunden in nichts auf und ich ertappte mich bei solch desaströsen Gedanken, warum immer nur mir das passiert. Beispiel gefällig? Letzte Woche. Date mit Doro, Requisiteurin beim Film. Abgemacht war 19:00 Uhr, Abendessen im Verdi. Ich pünktlich, legte die Rose auf den Tisch und bestellte ein Glas Wasser und wartete. Ich war ein wenig nervös, und diese positive Anspannung steigerte sich minütlich. Nach zwei Minuten schaute ich das erste Mal auf die Uhr, dann auf mein Handy, ist eine Nachricht gekommen, SMS leer, WhatsApp nichts und E-Mail auch nichts. Zwei Minuten später. Die ersten Zweifel finden den Weg in mein Bewusstsein, ich überprüfe den Tag, die Uhrzeit, alles stimmt, ist etwas passiert, wichtiger Termin, Stau, oder was Schlimmes. Aber dann hätte ich längst eine Nachricht. Aus Zweifeln wurden langsam Selbstzweifel, Ablenkung musste her.

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Carpe tempus, dachte ich und folgte dem Rat meines Bruders. Ich blätterte in einem Kulturmagazin und fand einen Artikel über Danke und Bitte. Dort las ich, dass es das Wort Danke  im Hebräischen und vielen anderen primitiven Sprachen gar nicht gibt. Und für das Wort Bitte gab es quasi zwei Worte. Das eine beschreibt den Vorgang des Bittens um etwas, das Vorbringen eines Anliegens und das zweite den viel stärkeren Vorgang, nämlich das Flehen aus einer Not, das Flehen um Errettung. Das Flehen ergibt sich aus der Situation und ist nichts anderes als eine Klage. 25 Jahre nach meinem Abitur mit einem gnadenlosen Mangelhaft im Leistungsfach Religion lese ich diese Zeilen… Meine Gedanken überwerfen sich, ich schaue auf die Uhr und werfe einen Blick durch den Raum. Doro ist nicht in Sicht, wird sie mich sehen, wenn sie hereinkommt, warum gehe ich nicht, 15 Minuten warten reicht, so langsam werde ich sauer.

Ich blättere weiter und vom Dank und der Bitte, vom Lob und der Klage ist es nur ein kleiner Schritt zum Jammern stand dort. Das kenne ich. Ich jammere gern. Irgendwie jammern doch alle. Klaus jammert, weil die Alemannia erneut um den Abstieg kämpft, Markus, weil er unglücklich in seiner Ehe ist und sie nur noch wegen der Kinder aufrecht erhält, Simone, weil es am Wochenende wieder regnet und es immer am Wochenende regnet, wenn sie frei hat.

Dieses Jammern hat nichts mit Klagen zu tun und nichts mit Flehen um Errettung, denn es will eigentlich keine Veränderung. Es will vielleicht ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Mitleid, man möchte mit dabei sein beim allgemeinen Jammern. Und am Wochenende steht Klaus wieder im Block 3, Markus ist zu Hause und mäht den Rasen und Simone liegt in der Therme und genießt die Sauna. Wer jammert, signalisiert letztlich, dass alles so bleiben soll, wie es ist.

Ich jammere heute nicht mehr, beschließe ich, ich gehe. Doch in diesem Moment holt mich die Kellnerin aus meinen Gedanken und fragt, ob ich auf eine Frau warte. Ich schaue sie überrascht an. Sieht man mir das schon an, denke ich und antworte mit ja. Hier ist ein Anruf für Sie, sagt sie und reicht mir das Telefon.

Doro ist dran und entschuldigt sich, sie habe die Zeit vergessen und ihr Handy, sie waren in Belgien unterwegs und hatten einen unendlichen Stress. Sie könnte es bis 20:15 Uhr schaffen, sie müsse noch schnell unter die Dusche und dann wäre sie schon fast da, aber lieber wäre es ihr, wenn wir das Date verschieben, da sie ziemlich k.o sei. Für diese Bitte hatte ich in diesem Moment kein Ohr und ich bat sie sich zu beeilen, ich würde gerne weiter auf sie warten.

Das war eine schlechte Entscheidung, denn als Sie kam, war sie wirklich k.o. Und das einzige was sie überzeugend von sich gab, war eingeübtes Jammern, über ihren Job und das Warten auf Aufträge, über ihre schlechte Bezahlung, ihre Mitbewohnerin und deren Männerbesuche und und und. Weder die viel zu schwere Pasta noch der vollmundige Rotwein vermochten diesen Abend zu retten.

Endlich. Jules, mein Zwillingsbruder betrat schwungvoll das Café, begrüßte mich, setzte sich, bestellte per Handzeichen das Übliche. Ja, Zwillingsbruder. Kaum vorstellbar, da nicht sichtbar. Zweieiig eben. Extrem selten. Völlig unterschiedlich und doch passend. Er der große Bruder, ich der kleine Jim. Meine Mutter hat die Namen ausgesucht, inspiriert von diesem Jahrhundertfilm von Francois Truffaut. Und so sind wir in mancher Hinsicht wie unsere Namensgeber, der eine ruhig, der andere unruhig, der eine sesshaft, der andere sprunghaft, der eine pünktlich.

Er überschüttet mich mit Fröhlichkeit und fragt gespannt nach  meinem Date und ich erzähle ihm, das das Interessanteste daran die Erkenntnis war, dass Jammern nicht hilft und deshalb wolle ich mich nicht beklagen. Er schaut enttäuscht und ein Anflug von Entnervtheit ist zu sehen. Ich fahre schnell fort und erkläre ihm, dass dieses „sich beklagen“, diese reflexive Form des Verbs, es zu Luthers Zeiten noch nicht gegeben hat. Jammern erscheint in den Wörterbüchern des frühen 20. Jahrhunderts lediglich im Sinne der religiösen Totenklage. Erst durch den Siegeszug der Psychologie und dem wissenschaftlichen Glauben daran, dass sich der Mensch durch bloßes Reden selbst kurieren kann, ist das Jammern in der Welt, und in Deutschland hat es die Ausmaße eines monotonen Grundrauschens des Alltags erreicht. Er versteht sofort und bestätigt meine Gedanken. Um das herauszufinden musstest du dich mit Doro treffen und das Date in den Sand setzen. Diese Erkenntnis hättest du einfacher haben können. Aber das mit dem Grundrauschen gefällt mir. Aber ob die Psychologie, die schwarze Pädagogik, der Absolutismus oder der Verlust der menschlichen und religiös geprägten Rituale daran Schuld ist, ist doch eigentlich egal. Fakt ist, es ist da, wie das Summen der Autobahnen und das Gefühl der Klimaerwärmung. Und man kann nur selber etwas dagegen tun und die Hoffnung nicht verlieren.

Und dann rutschte er von seinem Stuhl und hörte auf zu atmen. Ich dachte nur bitte, bitte nicht und wusste doch sofort, was los war und kann mich doch an nichts mehr erinnern. Irgendwann ließ der Schock nach, der Notarzt stellte nur noch den Tod fest und plötzlich saß Doro neben mir. Weinend sagte sie, Jules habe sie zu einem Update mit mir hier herbestellt.

2015. November. Nebel. Nacht.

Vor 16 Monaten hat mein Bruder, ja was hat er eigentlich. Mir fällt schwer es zu beschreiben, alles trifft es und trifft es nicht richtig. Er ist nicht gestorben oder von uns gegangen, er ist ja irgendwie noch da, ständig, jeden Tag, jede Minute und ich bin nach wie vor wütend auf ihn und unendlich dankbar. Ich verfluche das Schicksal und flehe ins Nichts.

Doro hat mir alles erzählt, was an diesem Tag, in diesem Moment im Café passiert ist, dass ich wie ein Wilder getobt habe, geschrien habe und rumgelaufen bin. Völlig überdreht. Das Seltsame ist,  wenn ich mich erinnere, dann ahne ich diesen einen Moment, in dem ich seine Hand hielt und wir uns lange ansahen und wir miteinander sprachen, ohne Worte, er sagte er gehe, aber er bliebe aber in meiner Nähe, ich wüsste, wie ich ihn finde und ich sollte Doro nochmal treffen. In diesem Moment erlebte ich zwei Welten, mein Körper im Rausch der Adrenalinausschüttung und mein Geist unterwegs in einer anderen Dimension. Ein Moment des größten Schmerzes und ein Moment ganz großer Ruhe und Kraft.

2016. Montag. Marktplatz. Macchiato.

Ich sitze im Café und ich warte nicht. Nicht mehr. Mittlerweile ist er immer pünktlich.


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