Kann der Losentscheid, also (auch) der Zufall etwa der Demokratie helfen, sie gar retten?
Verschiedene Studien zum Beispiel der Heinrich-Böll- und Otto-Brenner-Stiftung besagen, dass wir Deutsche uns zwar mit großer Mehrheit idealtypisch zur demokratischen Idee als Verfassungs- und Staatsform bekennen, hingegen nur mit einer Zustimmung von 50 Prozent zur real existierenden deutschen Demokratie.
Die Bürger wünschen sich mit großer Mehrheit Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, politische Stabilität oder eine unabhängige Justiz. Viele Bürger sagen aber auch, dass gegen den Willen des Volks regiert wird, dass die Macht eben nicht dem Volk, sondern einer kleinen Clique von machtorientierten Politikern gehört. Politikverdrossenheit und Frust gehen vielerorts um. Wutbürger entladen aktuell ihre teilweise völlig irrationale Systemablehnung mit martialischen Fackelzügen gegen die Corona-Politik.
Aber Ärger und Wut freien Lauf lassen, richtet sich selbst als so destruktiv wie unsolidarisch. Demokratie neu denken, ist hingegen sehr wohl erlaubt. Und warum soll der Zufall, also das Los nicht helfen? Was steckt hinter dieser eher vermeintlich demokratiefernen Idee?
Der Verein „Mehr Demokratie“ und die Schöpflin-Stiftung haben das Konzept eines Bürgerrats Demokratie entwickelt. Dieser Bürgerrat soll sich im Sinne einer zunächst politischen Fiktion nach dem Prinzip Zufall, also nach Losentscheid zusammensetzen und als zumindest beratendes Gremium Parlament und Regierung zur Seite gestellt werden.
Danach soll aus circa 100 ausgelosten bundesdeutschen Städten und Kommunen eine bestimmte noch näher zu definierende Anzahl von Bürgern, mindestens aber 160 Bürger abhängig von der Größe der Städte und Kommunen und soziodemografisch repräsentativ nach Geschlecht und Alter für den Bürgerrat ausgelost werden. So solle nach Vorstellung der Visonäre ein „Mini-Deutschland“ entstehen.
Neben den gewählten Abgeordneten als Volksvertretern, die sich überwiegend aus den politischen Parteien rekrutieren, könnte so ein unabhängiges, von Parteiräson abgesondertes Volksgremium den Volkswillen in den politischen Meinungsbildungsprozess einbringen. Diese Art von ausgelostem Bürgerrat sei selbstredend auch auf Länderebene oder kommunalen Bereichen denkbar.
Namhafte Politiker wie Wolfgang Schäuble, Ralph Brinkhaus und der jetzige Bundesjustizminister Marco Buschmann finden durchaus Gefallen an dieser Ideenschmiede. So meint Wolfgang Schäuble dazu, dass „die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur“ die Demokratie stark mache und anderen Regierungsformen überlegen.
Auch eine Bürgerbeteiligung generell befürworten immer mehr Politiker quer durch alle Parteien. So schlug etwa der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) jüngst einen sog. „Volkseinwand“ vor, mit dem praktisch alle durch den Landtag beschlossenen Gesetze gekippt werden könnten.
Auch der Koalitionsvertrag der Vorgängerregierung von CDU und SPD sah im Abschnitt XIII. vor, dass als Vorschläge zur Stabilisierung der bewährten parlamentarisch-repräsentativen Demokratie weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie zur Stärkung demokratischer Prozesse erarbeitet werden sollten
Bereits im antiken Athen, der „Wiege der Demokratie“, wurden wichtige Ämter nicht durch Wahlen, sondern durch Losentscheid besetzt. So entstand zum Beispiel der Rat der 500, der wie ein Parlament Gesetzesvorschläge erarbeitete und aus dem sogar die Regierung hervorging. Die alten Griechen, allen voran ihr Vordenker Aristoteles, versprachen sich dadurch größtmögliche Gleichheit und Unbestechlichkeit unter allen ausgelosten Bürgern.
Späterhin gab es viele Nachahmer bis in die Neuzeit, solche Zufallsgremien zu etablieren, zum Beispiel das „Citiziens Assembly“ in Irland, das als ausgelostes Gremium an 12 Wochenenden strittige Themen diskutierte, um sodann Lösungen zur Volksabstimmung zu bringen. Auf diesem Wege wurde unter anderem die gleichgeschlechtliche Ehe in Irland eingeführt.
Die Diskutanten im Verein „Mehr Demokratie“ sind sich durchaus bewusst, dass die gewählten Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes im Sinne von Artikel 38 Grundgesetz sind. Es dürften die Prinzipien der repräsentativen Demokratie und einer darin kooptierten direkten Bürgerbeteiligung über Losverfahren nicht gegeneinander ausgespielt, sondern sollten miteinander verzahnt werden und als dualer Motorantrieb für mehr Demokratie im Regierungssystem fungieren. So seien ausgeloste Bürger jedenfalls freier in ihren Entscheidungen, da sie nicht auf eine nächste Wahl fokussiert, und auch kreativer, da sie nicht allzu stark fachorientiert seien.
Zukunftsthemen wie der Klimaschutz oder komplexere Konfliktlagen wie im Rahmen der Verkehrsplanung oder bei einer Reform des Wahlrechts wären geradezu Beratungsklassiker für ein unabhängiges und für eine festgelegte Zeit ausgelostes Gremium, das auch eng mit Experten arbeiten kann.
Fazit: „Mehr Demokratie wagen“ oder „Keine Experimente“ – Überzeugen die Slogans Willy Brandts oder Konrad Adenauers mehr? Wahrscheinlich dürfte die goldene Mitte gemäß der Prämisse überzeugen:
Lose Bürgerräte wagen, ohne unsere demokratischen Verfassungsgrundsätze zu schlagen.