Insgesamt rund 1500 Freiwillige werden vom heutigen Freitag an zu einem wissenschaftlichen Großexperiment in der Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf erwartet. In den nächsten vier Tagen durchlaufen sie verschiedene Parcours, um die Abläufe auf vollen und übervollen Bahnsteigen nachzustellen. Angeleitet werden sie von Forscherinnen und Forschern des Forschungszentrums Jülich, der Bergischen Universität Wuppertal und der Ruhr-Universität Bochum im Projekt CroMa, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ gefördert wird. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, die Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Bahnhöfen für hohe Fahrgastzahlen zu verbessern.
Jeder, der Bahn fährt, kennt das Problem: Besonders zu Stoßzeiten oder nach Großveranstaltungen wird es eng. Nicht nur in den Waggons, sondern auch auf den Bahnsteigen und in den U-Bahn-Stationen kommt es zu Gedränge, das nah am Gleis oder an Treppenabgängen schnell gefährlich werden kann. Gerade die großen, zentralen Bahnhöfe wurden vielfach nicht für die heutigen Fahrgastzahlen ausgelegt. Sie stammen noch aus einer Zeit, als weit weniger Reisende mit der Bahn unterwegs waren. Und es ist davon auszugehen, dass die Fahrgastzahlen weiter steigen werden.
Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Rachel erklärt hierzu: „Bahnhöfe sind die zentralen Knotenpunkte unseres öffentlichen Fern- und Nahverkehrs, die täglich von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern im ganzen Land genutzt werden. Unser Ziel besteht darin, dass zukünftig noch mehr Menschen die Bahn nutzen und wir damit einen Beitrag zur Reduzierung unserer CO2-Emissionen leisten können. Deshalb möchten wir mit dem vom Bundesforschungsministerium geförderten CroMa-Projekt Bahnreisen sicherer, effizienter und nutzerfreundlicher gestalten. So können etwa Durchsagen, Anzeigeschilder und Bahnsteige auf Basis der Erkenntnisse des Projekts zukünftig so gestaltet werden, dass Bahnhöfe selbst bei großen Menschenansammlungen, wie sie etwa vor und nach Fußballspielen vorkommen, noch sicherer werden. Das CroMa-Projekt reiht sich damit in eine Vielzahl von Aktivitäten des BMBF-Rahmenprogramms ‚Zivile Sicherheitsforschung 2018-2023‘ ein, mit dem der Schutz und die Lebensqualität von Bürgerinnen und Bürgern in vielen Lebensbereichen erhöht wird.“
Wegen der zentralen Lage lassen sich bestehende Bahnhöfe und Stationen nicht oder nur sehr schwierig erweitern. „Eigentlich kann man nur an Details arbeiten“, erklärt Prof. Armin Seyfried vom Forschungszentrum Jülich und der Bergischen Universität Wuppertal. „Das testen wir bei den Experimenten in Düsseldorf mit Probanden in verschiedenen Szenarien. Simuliert wird beispielsweise, wie sich wartende Menschen auf einem Bahnsteig und vor einem Einlass verteilen, oder es werden verschiedene Situationen beim Ein- und Aussteigen an Zugtüren nachgestellt.“
Die Forschenden wollen so neue Erkenntnisse gewinnen, wie sich Durchsagen, Anzeigeschilder und bauliche Veränderungen auf die Dynamik und das Verhalten der Fahrgäste auswirken. Übergeordnetes Ziel ist es, neue Konzepte für bauliche Regelungen sowie passgerechte Werkzeuge für ein verbessertes Crowd-Management zu schaffen, um die Effizienz und Sicherheit an Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen weiter zu erhöhen. Unterstützt werden die Forscher dabei von D.LIVE, einem Betreiber großer Veranstaltungsstätten in Düsseldorf, deren An- und Abreiseverkehr auf einen gut funktionierenden öffentlichen Nahverkehr angewiesen ist.
„Ein gewisses Potenzial besteht darin, die gesamte Länge des Bahnsteigs besser auszunutzen“, konstatiert Armin Seyfried. Beispielsweise indem man schon vorab darüber informiert, wie voll einzelne Waggons sind. In den Bereichen mit freien Plätzen warten dann womöglich mehr Menschen, was nicht nur den Komfort steigert, sondern auch das Ein- und Aussteigen erleichtert und beschleunigt.
In erster Linie stehen aber ganz grundlegende Fragen auf dem Programm: Wie verhalten sich Menschen im Gedränge? Welche Auswirkungen hat es, wenn viele Fahrgäste mit Gepäck unterwegs sind? Auch psychologische und soziale Faktoren werden berücksichtigt. Forschende der Ruhr-Universität Bochum (RUB) wollen etwa untersuchen, wie Menschen reagieren, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen: etwa welche Folgen es für die Wartenden in eine Warteschlange hat, wenn sich jemand vordrängeln möchte.
Neue Erkenntnisse durch Körperdaten
Für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich und ihre Partner ist es nicht der erste Großversuch. Zuletzt hatten sie im Jahr 2013 Experimente mit bis zu 1000 Probanden durchgeführt. Ziel des mittlerweile abgeschlossenen Projekts BaSiGo war es, die Sicherheit bei Großveranstaltungen zu erhöhen.
Zu den aktuellen Experimenten haben die Forscherinnen und Forscher wieder Teilnehmende eingeladen, die nun gleichzeitig in drei Bereichen verschiedene Versuche ausführen. Auch die Messtechnik ist über die Jahre weiter gereift. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen wieder Mützen auf dem Kopf, auf denen ein individueller Code aufgedruckt ist. So wird es möglich, aus den Bildern der Deckenkameras Bewegungsprofile zu erstellen, die sich dann mit persönlichen Merkmalen wie Körpergröße, Geschlecht und Alter in Verbindung bringen lassen. Mittels Motion-Capture-Anzügen werden von einigen Probanden die Bewegungen des gesamten Körpers erfasst. Drucksensoren messen darüber hinaus Kräfte im Gedränge.
Zusätzlich statten Forschende der RUB einige Versuchspersonen mit Sensoren aus, um die Herzrate und Hautleitfähigkeit aufzuzeichnen. Solche physiologischen Daten sollen später Aufschluss darüber geben, wie gestresst oder motiviert die jeweiligen Testpersonen waren.
Bei Versuchen gilt die 3G-Regel
Nachdem die Versuche im März letzten Jahres aufgrund der aufkommenden Corona-Pandemie abgesagt wurden, ist die Durchführung mit einem entsprechenden Hygienekonzepten nun möglich. Als Zugangsvoraussetzung für die Experimente müssen alle Personen entweder innerhalb der letzten 48 Stunden negativ getestet, vollständig geimpft oder nachweislich genesen sein (3G-Regel). Darüber hinaus werden alle Personen vor dem Einlass mittels Schnelltest getestet.
Das CroMa-Projekt
Die Abkürzung CroMa steht für „Crowd-Management in Verkehrsinfrastrukturen“. Das Verbundprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ von August 2018 bis Juli 2022 mit rund 3,3 Millionen Euro gefördert. Projektpartner sind die Bergische Universität Wuppertal, die Ruhr-Universität Bochum, die D.LIVE GmbH & Co. KG aus Düsseldorf sowie das Forschungszentrum Jülich. Als Anwender sind neun weitere Projektpartner assoziiert in das CroMa-Projekt eingebunden, darunter die Bundespolizei, die Stadt Düsseldorf, mehrere große Verkehrsbetriebe des Nah- und Fernverkehrs sowie Firmen aus der Veranstaltungsbranche.