Anfang Dezember. Es ist kalt. Bruder und Schwester sitzen am heimischen Kamin. Zeit für Geschichten. Weihnachtsgeschichten. „Findest Du die Geschichte vom Shristkind aus der Bibel oder die Geschichte vom Weihnachtsmann mit Rentierschlitten schöner?“, fragt der kleine Bruder. „hm, eigentlich haben beide ihren Reiz und lassen sich prima verbinden“, sagt die große Schwester und beginnt zu erzählen: Das Shristkind sitzt in seinem Lieblingssessel. Vor ihm liegt eine Scheibe Baumkuchen, in der Hand hält es dampfenden Tee, und im hintergrund laufen ein paar seiner Lieblingsweihnachtslieder auf Schallplatte.
„Du bist so retro“, sagt der Weihnachtsmann, der gerade das Zimmer betritt. „Warum holst du dir das nicht als mp3? Oder wenigstens als CD?“ „Aber dann geht doch der ganze Charme verloren“, erklärt das Christkind, „so gefällt es mir viel besser.“
Es sieht aus dem Fenster. Draußen ist es kalt geworden. Man sieht es an den Eiskristallen, die sich langsam an der Fensterscheibe bilden. Und an den Schneflocken, die schon gefallen sind.
„Findest du nicht auch, dass schon das Wort ‚Dezember‘ nach Eiskristallen, glitzernden Sternen und Schnee klingt?“ Das Christkind nimmt einen Schluck aus der Tasse. „Und Advent klingt nach warmem Tee, Kerzen und Baumkuchen. Und nach Besinnlichkeit.“
„Kann sein“, erwidert der Weihnachtsmann. „Ich finde den Sommer viel besser. Die Tage bleiben länger hell, und es ist warm.“ Er grinst. „Das ist toll.“
„Also, ich mag ja, dass es früher dunkel ist. Aber dafür hat ja jeder seinen eigenen Geschmack.“ „Genauso wie dein Tee. Wie kannst du nur Tee trinken?“
„Wie kannst du coca-cola trinken?“
„Die schmeckt gut!“
„Siehst du? So de niert jeder etwas anderes als ‚gut‘ oder ‚schön‘.“ Lächelnd schaut es den Weihnachtsmann an.
„Ich zum Beispiel ziehe es vor, erst nach Totensonntag auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, obwohl ich schon gerne hingehe. Und häufig ist es auch schöner, Dinge zu verschenken als geschenkt zu kriegen. Das Lächeln, die Freude in den Augen des Beschenkten und die Gewissheit, jemandem etwas geschenkt zu haben, was ihm auch gefällt – das ist doch grandios, meinst du nicht?“
„Ich krieg schon gerne was geschenkt“, überlegt der Weihnachtsmann, „aber ich verschenke auch gerne. Besonders, wenn mir etwas Gutes eingefallen ist. Oder wenn ich mir viel Mühe gegeben habe.“
„Manchmal haben wir ja doch die gleiche Meinung“, grinst das Christkind. „Aber komm mal mit, ich möchte dir etwas zeigen.“
Die mittlerweile leere Teetasse und der nur noch mit Krümeln bedeckte Teller werden weggestellt, die Musikanlage ausgestellt und die haustür geöffnet. Die Luft ist klar und fast schon klirrend, man kann seinen eigenen Atem als weiße Wolke in den dunklen Abend schweben sehen. „Weihnachten rückt näher“, bemerkt das Christkind verträumt, „Komm, wir gehen ein Stück. Siehst du diese Verzierungen, dort an den Häusern?“
„Meinst Du den blinkenden Stern oder den Rentierschlitten?“
„Beides. Weißt du, manche glauben an das Christkind, andere an den Weihnachtsmann. So ist das nun mal. Und das ist auch in Ordnung. Jeder hat schließlich seine eigene Geschichte. Und an Weihnachten spielen sich tausend Geschichten ab. Da- rum sollte man gerade in dieser Zeit sich darin üben, andere zu akzeptieren.“
„Aber ich muss nicht alles plötzlich toll finden?“ „nein“, lacht das Christkind, „Das ist das Schöne an einer eigenen Meinung. Du sollst dich bloß in andere Meinungen hineinversetzen können. Und nicht sofort eine andere als Blödsinn abstempeln, bloß weil du sie nicht teilst, oder dir nicht die Mühe gibst sie zu verstehen.“
Das gibt dem Weihnachtsmann zu denken. Wortlos gehen sie weiter, bis sie zum Weihnachtsmarkt kommen.
„Weißt du“, sagt das Christkind, „es gibt Menschen, die lieben den Weihnachtsmarkt und kommen jeden Abend her, andere können so einen Trubel nicht leiden und bleiben lieber zu Hause, bei ihrer Familie und ihren Freunden. Mag es an der Musik liegen oder an den Menschen – sie haben eben eine andere Mentalität. Auch, wer herkommt, ist ganz unterschiedlich. Einige mögen die Figuren, die man teilweise kaufen kann, andere mögen Ma- ronen oder gebrannte Mandeln, oder…“ „Paradiesäpfel!“, sagt der Weihnachtsmann, der gerade welche in einer Auslage entdeckt hat „Ich hol mir einen“.
Das Christkind schaut sich um. Krippen- und Engelsfiguren, leuchtende Sterne, Christbaumschmuck, Kerzen und Teelichthalter, das Fahrgeschäft – alle Eindrücke sind vertraut und doch jedes Jahr etwas Besonderes. Es schließt die Augen und nimmt diesen einzigartigen Geruch in sich auf – den Geruch von gebrannten Mandeln, Ma- ronen, Zimt und Kartoffelpuffer und den des Dezembers, der die Luft jedes Jahr schwerer zu sein und die Zeit zu entschleunigen scheint – ach, die Weihnachtszeit ist doch wunderschön!
Mit strahlenden Augen kommt der Weihnachts- mann zurück. „Großartig, wie fröhlich Menschen allein über kleine Dinge sein können“, denkt sich das christkind. „Komm, wir gehen langsam zu- rück“, sagt es lächelnd.
„Ich glaube, es ist die Summe der Dinge, die Weihnachten zu dem macht, was es ist. Man muss nur auf die kleinen Dinge achten. Dann sieht man, dass nicht nur das große Ganze, sondern besonders auch die Details etwas ganz schön machen“, meint der Weihnachtsmann. „Du hast aber ganz
schön was gelernt heute“, sagt das Christkind begeistert. „Nein, das wusste ich schon immer. Es ist nur so, dass man nicht immer daran denkt.“ „Wie gut, dass es die Weihnachtszeit gibt.“
„Die Weihnachtszeit ist eben die Zeit der Besinnung auf das Wesentliche.“ Die beiden lächeln und wissen: Dieses Weihnachten wird besonders schön.
Der kleine Bruder räuspert sich: „Das war eine blöde Geschichte.“ „Wieso das denn?“, fragt die Schwester und nimmt einen Bissen vom Baumkuchen. „Sie war langweilig und total kitschig. Das waren alles Binsenweisheiten. Du hast dich ständig wiederholt. Es gab keine spannenden Wendungen und noch nicht einmal typische erzählerische Mittel wie den Himmel oder die Bäckerei, die den Himmel abends rot färbt.“ Sie schaut ihn an. „Hast du die Geschichte nicht verstanden?“
„Doch, doch. Ich fand sie nur nicht gut. Außerdem waren das Christkind total altklug, so wie du“, antwortet ihr Bruder mit einem Lächeln.
Die Schwester seufzt: „nun gut. Aber eins ist doch richtig: Die Weihnachtszeit ist toll.“
„Okay, das stimmt. Weihnachten ist wunderschön.“