Wenn wir uns anschicken, an dieser Stelle einmal über das Thema „Diät“ zu sprechen, so besteht der Autor, der sich für die Ich-Erzähler-Variante entschieden hat, ausdrücklich darauf, dass es sich hierbei um ein lyrisches Ich handelt. Kein Ich also, dass auch nur im entferntesten etwas mit dem Ich des Autors gemein hätte. Ganz so wie in Hermann Hesses „Steppenwolf“. Rein gar nichts, verstehen Sie?
Also ich (lyrisches Ich) stehe vor dem Spiegel, schiebe das Kinn nach vorne, ziehe die Hose über den Bauchnabel und sage: „Verdammt, ich mach mir doch nur was vor, ich bin wieder dick“! – „Bist Du doch gar nicht“, sagt eine Stimme im Kopf. „Bist Du doch gar nicht, so von vorne betrachtet.“ Zu dumm, dass Fotos nicht immer von vorne geschossen werden, sondern manchmal ganz gemein, halb seitlich von hinten, wenn man das Kinn nicht nach vorne geschoben und den Bauch nicht eingezogen hat. Solche Fotos sind schlimm, und selbst wohlmeinende Zeitgenossen, die dann tröstend einwenden „da bist du halt nicht so gut getroffen“, vermögen den Schreck nicht zu lindern. Auch die Spiegel beim Friseur sind gemein, ich meine, wenn man da so sitzt und man sich halb seitlich beim Haare waschen betrachtet. Der nächste Friseurtermin ist in fünf Wochen, und ich schwöre: Wenn ich das nächste mal hier auf diesem Stuhl sitze, werde ich schlanker sein. Ganz bestimmt, denke ich. „Na warten wir’s mal ab“, sagt die Stimme im Kopf spöttisch. „Doch ganz bestimmt!“, antworte ich der Stimme trotzig, „gleich morgen fange ich an abzunehmen!“
Der geneigte Leser merkt bereits, hier entspinnt sich ein Kampf zwischen zwei Kontrahenten. Ganz so wie zwischen dem Steppenwolf und Hermann Hesse. Pardon, zwischen dem Steppenwolf und Hermann Hesses lyrischem Ich natürlich. „Ich habe schon früher abgenommen, und ich werde es dieses Mal wieder schaffen!“
Zeit also für eine neue Diät! Doch stop! Ich sprach soeben von zwei Kontrahenten, und die müssen noch vorgestellt werden. Zum einen Ich. Mich kennen Sie schon, und dann gibt’s da noch Erich. Erich, so nenne ich diese innere Stimme, die alles kommentiert, was ich tue. Manche nennen ihn „den inneren Schweinehund“, aber ich nenne ihn Erich, da er seinem Namen entsprechend versucht, die Alleinherrschaft über mein Leben zu erringen, um mir in jeder Lebenssituation zu sagen, was ich machen soll. Erich ist gar nicht so unsympathisch. Er bevorzugt süße Teigwaren. Aber die machen dick.„Du kannst sie doch zum Frühstück essen“, sagt Erich „morgens braucht man Kohlenhydrate.“ Vielleicht hat Erich Recht. „Ganz bestimmt“, sagt Erich. „Außerdem reicht es doch, wenn Du in einer Woche mit dem Fasten anfängst. Dann hast du immer noch vier Wochen bis zum nächsten Friseurtermin. Bis dahin machen wir uns eine schöne Zeit mit Buttercremetorte!“ Nein, diesmal durchschaue ich Erich. Wenn ich mir vornehme, erst in einer Woche mit dem Abspecken zu beginnen, hat er definitiv wieder gute Gründe dafür, den angepeilten Termin ein weiteres Mal wieder aufzuschieben. „Du musst ja diesmal nicht so viel abnehmen, Re….öhm lyrisches Ich. Und diesmal kannst Du ja auch langsamer abnehmen. Zu schnelles Abnehmen soll doch nicht gesund sein, sagt man.“ – „Halt die Klappe, Erich!“ – „Dann kauf Dir doch diesmal eine von den Zeitschriften, in denen leckere Diäten beschrieben werden. Dann wird’s nicht ganz so krass“. – „Gut, Erich, das mache ich. Ich gehe jetzt in den Kiosk, und wenn ich schon nichts essen darf, rege ich mein Belohnungssystem mit dem Kauf einer Zeitschrift an.“ Doch welche Zeitschrift nehmen? Petra, Lisa, Freundin, Bild der Frau, Tina, Susi und wie sie alle heißen. Alles Frauenzeitschriften. Und auf allen steht vorne eine Diät drauf: Die Sieben-Tage-Diät, die Diät der Stars, die Einfach-lecker-Diät, die schlank-im-Schlaf-Diät. Aber wie kann das sein? Diese Zeitschriften kommen doch jede Woche neu raus. Und wenn nur eine Diät davon funktionieren würde, müsste man doch nicht jede Woche eine neue anpreisen. Ein cleverer psychologischer Verkaufstrick ist das – könnte glatt von Erich stammen. Ich kaufe eine „Psychologie heute“ und verlasse den Kiosk. „Du könntest auch mit dem Rauchen anfangen. Du musst ja nicht gleich abhängig werden. Rauche doch nur so lange, wie die Diät dauert. Dann hörst Du einfach wieder auf. Rauchen macht schlank!“ – „Nein, Erich! Ich rede heute kein Wort mit Dir!“ – „Ich aber mit Dir“, lacht Erich.
Tag eins der Diät: Das Wort Diät kommt aus dem Griechischen und bedeutet auch Lebensweise. Ich muss also nicht nur weniger essen, ich muss meine Lebensweise ändern. „Na, das kann ja heiter werden“, begrüßt mich Erich an diesem Morgen. Ich sage mir „Wenn es mir gelingt, ungefähr zehn Kilo abzunehmen, würde ich dieses Jahr immer als ein erfolgreiches Jahr in Erinnerung behalten“.Das motiviert. Der Plan: Ich esse reichlich zum Frühstück und verschiebe das Mittagessen in den frühen Nachmittag – so gegen drei Uhr esse ich dann. Und sonst gibt’s nichts. Keine Zwischenmahlzeiten, keine Süßigkeiten, kein Alkohol. Erich spricht nicht mehr mit mir. Unser Verhältnis, und das sollte der Leser wissen, war nicht immer so angespannt. Während der Zeit, als ich 18 KG zugenommen habe, waren Erich und ich dicke Freunde. Aber es ist mir ernst. Ich beginne mit einem Vollkornbrötchen mit Butter und Schinken. Ballaststoffe sind gut und beschleunigen die Verdauung. „Nimm noch einen Klecks Tomatenketchup dazu“, schlägt Erich vor. „Tomatenketchup ist gut gegen freie Radikale und schmeckt soooo lecker!“ Kein Tomatenketchup! „Wie wär’s jetzt mit einem Streuselbrötchen? Dann hast Du tagsüber weniger Lust auf Süßigkeiten?“ Gut, Streuselbrötchen zum Frühstück ist ok. So ganz darf man es sich mit Erich nicht verscherzen. Er kann einem gründlich die Laune verderben. Das Streuselbrötchen zum Frühstück ist ein gutes Friedensangebot von mir. Der Tag bis zum Mittagessen läuft locker und ein rechtschaffenes Hungergefühl lädt zum Mittagessen ein. Was gibt’s heute? Paella aus der Tiefkühltruhe, denn Reis und Fisch sind gesund und machen lange satt. Das von Erich vorgeschlagene Dessert lehne ich dankend ab. Bis vier Uhr geht alles gut. Dann hat Erich Lust auf Waffeln. Belgische Waffeln mit Vanille-Eis und Schoko-Sauce. „Gibt’s nicht, Erich! Keine Chance!“ Die Stimmung sinkt, aber es geht irgendwie vorwärts, wie bei der Besteigung eines hohen Berges. Langsam und mühsam, aber es geht. Der Abend kommt, Kartoffelchips-Time, und Erich begleitet mich beim Lebensmitteleinkauf. Da stehen Nachos mit Käsedip… hhmm! Wie viele gemütliche Abende habe ich mit Erich bei einem klasse Film auf der Couch verbracht und wir haben Nachos gegessen! Heute nicht, die Stimmung sinkt, aber die Motivation reicht, um den ersten erfolgreichen Abnehmtag zu Ende zu bringen. Super! Am nächsten Morgen will ich mich auf die Waage stellen, aber Erich hat etwas dagegen. „Nimm doch erst mal ein paar Wochen ab und dann stellst Du dich auf die Waage. Dann hast Du schon viel geschafft und kannst Dich freuen.“ – „Wie soll ich mich freuen können, wenn ich nicht weiß, wie viel ich insgesamt abgenommen habe?“ Also, rauf auf die Wage und das Ergebnis motiviert eindrucksvoll weiter standhaft zu bleiben – noch lange, noch sehr sehr lange, fürchte ich.
Die Tage zwei, drei und vier laufen ähnlich. Zwei Mahlzeiten am Tag, hin und wieder Streit mit Erich und folglich schlechte Laune, aber dann passiert etwas. Es wird leichter! Hin und wieder gibt’s auch Versöhnungsstreuselbrötchen zum Frühstück, aber ich bleibe standhaft, und eine Vorfreude stellt sich ein. Noch vier Monate bis zum Sommer und dann bin ich hoffentlich schlank und Fotos von schräg hinten sind dann ok. Kein Kinn nach vorne schieben, kein Bauch einziehen, einfach wohlfühlen!
Zum Schluss hoffe ich, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie dem lyrischen Ich viel Erfolg beim Schlankwerden wünschen. Im Sommer sehen wir uns wieder. Ich meine Sie und das lyrische Ich.