Künstler sind maßlos. Sie stehen vor dem Glanz der Welt wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum und greifen immer tiefer ins Lametta, ganz getreu der sauerländischen Maxime: Satt…? – Kenne ich nicht! Entweder ich habe Hunger oder mir ist schlecht. Mit einem Fuß auf der Jakobsleiter, mit dem anderen in der Endlichkeit sind sie ein Abgrund und sie werden ihn zu füllen versuchen, mit Arbeit, Affären und Ambitionen. Fortunas Füllhorn ist ja nur wenigen so tief einsichtig wie den Phantasiebegabten, doch was sie sehen, ist ein Spiegel, der einen Spiegel spiegelt. In Samuel Becketts Notizen finden wir eine passende Anekdote: der Bildhauer Giacometti bleibt nach einem Gelage in der Bar Rotonde beim Verlassen volltrunken in der gläsernen Drehtür hängen, in der er sich endlos weiter dreht, da er den Ausgang aus Glas in diesem Glaskarussell nicht mehr finden kann.
Der Leser, der nun fürchtet, er werde im Folgenden eine Abhandlung über Genie und Sucht zu lesen bekommen, etwa von Rembrandts Leberzirrhose oder van Goghs Absinthdelirien, von E.A. Poes Ätherräuschen, den Quartalsbesäufnissen von Pollock und WOLS, Beaudelaires Opiumkonsum oder die monatliche Getränkerechnung von Max Beckmann aus dem Capership, den kann ich beruhigen: das wird nicht passieren. Stattdessen interessieren mich Nähe und Verschiedenheit des Vollen und der Fülle, ihr Zusammenhängen und ihr Auseinanderfallen.
In der Malerei benutzen die meisten Maler fertige Farben, wie sie nach dem Rezept des Hauses von den Herstellern in Tuben abgefüllt werden. Greife ich nun auf ein billiges Produkt zurück, so wird z.B. das wunderbar leuchtende, transparente Türkis ein materielles Geschmiere sein, eine farbige Wurst, die aus der Tube quillt und statt des gläsernen Aprilhimmels einen fetten Schleim auf das Weiß des Malgrunds legt. Türkis ist teuer und der Hersteller hat alles reichlich mit Füllstoff versetzt.
Füllstoffe geben einer Farbe Volumen, das macht auch die Tube voll. Aber die narkotische Tiefe eines smaragdgrünen Meeres oder die türkisfarbenen Tiefen eines Aprilhimmels wollen Transparenz, das Leuchten des Spektrums, die Fülle der farbigen Nuancen und nicht das Volle. Die Grenze zwischen beidem ist nicht leicht zu ziehen, jeder Gourmet ist in der Regel auch ein Gourmand und kriegt den Hals nicht voll von der Fülle. Der Fuchs des Aesop macht uns das Problem deutlicher: der Spalt, der ihn in die Speisekammer einlässt, steht ihm nach der Völlerei nicht mehr offen. Der Koch ertappt ihn und schlägt ihn tot.
In Hülle und Fülle heißt es so schön gereimt, aber was für einen Reim soll ich mir darauf machen? – Dass äußere Form und innere Fülle sich zu entsprechen haben und sich spiegeln sollen? Das wäre eine der Kriterien der Weimarer Klassik für das Kunstwerk, die Einheit in der Dreiheit des Guten, Wahren und Schönen. Eine Gans wäre dann nicht nur gut gebraten, sondern sie durfte zudem in Freilandhaltung auf Streuobstwiesen aufwachsen, mit deren Äpfeln und Maronen und reichlich Thymian und Beifuß sie vor dem Braten gefüllt wurde, während mein Blick beim genussvollen Kauen über die Rabatten der herbstlichen Astern der Gänsewiese und dem verwaisten Teich schweift. Die gelungene Einheit von Hülle und Fülle.
Das rechte Maß von Form und Inhalt ist die Grundproblematik jeder Kunst, nur ist Kunst immer auch temporär. So hatte die barocke Fülle gewaltiger Hinterteile ihren Hintergrund im täglichen Kampf um das Allernötigste, der Hunger war ein ständiger Begleiter und somit war dick = reich = schön. Barock stammt vom portugiesischen barroco und meint ursprünglich eine unregelmäßig geformte Perle. Eine Unverhältnismäßigkeit, eine Deformation und im nachfolgenden Rokoko verstärkt sich das Missverhältnis und eine Korrektur wird unumgänglich: Marie Antoinette wird stellvertretend auf eine neue Gleichheit hin gestutzt, Freiheit und Brüderlichkeit werden ihr nicht zuteil. Sie kommt unter die Guillotine.
Das Zu leer und das Zu voll wechseln im Pendelschlag, den Schwung auf der optimalen Mitte anzuhalten, will uns selten gelingen. Auch im praktischen Leben geht es um Form und Inhalt und die Zeiten, in denen man die Babys mit kugelrund – kerngesund ins lebenslange Übergewicht und die Diabetes 2 abfüllte, gehen nun doch allmählich ihrem Ende entgegen. Der Überfluss gibt Wahlfreiheit und die aktuellen Lager bilden sich aus gewohnt barocker Fettleibigkeit oder den daumendicken Sehnen Jogging gestählter Kniekehlen. Wo einst die Beine von Marlene Dietrich Anmut und Eleganz und die Fülle der Nuancen zwischen den Geschlechtern spiegelten, da bleibt beim Sport gestählten Unisex der Luxus auf der Strecke. Eine neue Einheitsfigur macht sich breit, dem Vorbild sowjetischer Kugelstoßerinnen Folge leistend.
Das Verhältnis von Leer und Voll ist kompliziert, das halb leere Glas ist bekanntlich gleichzeitig das halbvolle. Auch Lao Tse sah die Qualität von Speichen in ihren Zwischenräumen, von Krügen im Hohlraum, von Wänden in ihren Türen und Fenstern, also in der Qualität des Leeren, Fehlenden, nicht Vollen. Als Maler kenne ich die Erleichterung, wenn nach tagelangem Anrennen und Herummurksen an einem Bild, das immer voller wird, ich endlich den Quast ergreife und alles Weiß übermale. Ein Glücksgefühl, das dem Vollenden einer Arbeit auf seltsame Weise gleicht.
Das Abschließen und das Anfangen scheinen in einem sich komplementären Zusammenhang zu stehen, so wie auch Hunger und Sättigung. Deshalb pflege ich auch meine Wanderungen stets nüchtern zu beginnen. Die Folge davon ist die Schärfung des Geruchsinnes. Besonders im Herbst, wenn gärende Äpfel und Trauben in den Weinbergen, Pilze und Beeren ihre Aromen aussenden, die ich mit vollem Magen kaum gewittert hätte und die mich nun an meinen leeren Magen erinnern. Ich werde ihn schon bald im Hof einer Straußwirtschaft vorzüglich mit gefüllter Gans zu füllen wissen und der Winzer wird Sorge tragen, dass mein Glas gut voll bleibt und es bleibt mir nur übrig, es selbst nicht zu werden.