Heutzutage hat der Wortstamm „heit“ keine eigene Bedeutung mehr, kann also nicht alleine stehen und kommt nur in Verbindungen vor. „heit“ ist nur noch ein reines Affix, also ein Anhängsel, oder genauer gesagt ein Suffix, also ein Anhängsel hinten. Es existieren keine zwei, drei oder mehr Heiten.
Vielmehr muss es beispielsweise mit Adjektiven oder Partizipien Substantive bilden, die einen Zustand, eine Beschaffenheit oder eine Eigenschaft ausdrücken: Schönheit, Beliebtheit, Vernarrtheit, Chancengleichheit, Freiheit. Und eben auch Einheit.
„Wo ist meine Einheit? Das ist doch nicht meine Einheit. Ich will zu meiner Einheit!“ In dem Klimbim der gleichnamigen Comedy-Soap von Anfang der 80er Jahre sucht ein orientierungsloser Rekrut nach seiner Bestimmung in Form einer Anhäufung Mensch.
So lustig es damals wie jetzt sein sollte, so sinnhaft beschreibt es das Bestreben aller menschlichen Wesen, irgendwo dazuzugehören. Der „Sense of belonging“ ist eine überaus zentrales Thema in vielen Bereichen angloamerikanischer Literatur und spielt in einer ähnlichen Umgebung wie „to be someone“ und „being someone else“, also das Gefühl, jemand wichtiges zu sein, am besten noch dazu jemand anderes.
Wouldn‘t it be good to be on your side, the grass is always greener over there… Woanders und unter anderen Umständen ist das Leben viel besser. Bestimmt. Die Idee des Schlaraffenlandes. Daher ist auch immer der Weg das Ziel. Denn das Ziel ist allzu oft viel zu ernüchternd. Soooo habe ich mir das aber nicht vorgestellt…
Manche Menschen fühlen sich in einer größeren Einheit wohl, dichtgedrängt zwischen lauter Ballerfrauen und -männern in überdimensionalen Stadien, andere wiederum in einer kleineren, die überschaubar ist. Gut, es mag auch Individuen geben, die am liebsten in ihrer eigenen unbegrenzten Fantasiewelt zuhause sind.
„Wo ist meine Einheit? Ich will zu meiner Einheit!“ Weiß er überhaupt, wen oder was er sucht? Und was ist überhaupt eine Einheit? Der Duden weiß (mal wieder) Bescheid: 1. in sich geschlossene Ganzheit, Verbundenheit; als Ganzes wirkende Geschlossenheit, innere Zusammengehörigkeit; 2. einem Maß-, Zählsystem zugrunde liegende Größe; 3. zahlenmäßig nicht festgelegte [militärische] Formation.
Kurz: etwas Perfektes wie ein Kreis, das sich dennoch zählen oder zumindest bemessen lässt, aber unterschiedlich groß sein kann und womöglich etwas mit Waffen oder Verteidigung zu tun hat. Wenn wir also nun den Tag der Deutschen Einheit feiern, ergeben sich daraus etliche Fragen: Wie viel Volk darf es denn sein, damit es eine Einheit ergibt? Wie geschlossen muss es wirklich sein, um als Ganzes zu wirken? Und welche Rolle übernehmen dabei die Soldaten?
Einheit ist übrigens ebenfalls die in der Hymne beschriebene „Einigkeit“, die gemeinsam mit Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland zu streben geboten ist. Und zwar brüderlich mit Herz und Hand! Eines kann indes als ziemlich sicher gelten: Eine geschlossene Ganzheit ist das deutsche Volk keineswegs. Selbst eine innere Verbundenheit darf doch bei großen Teilen bezweifelt werden. Und das gilt nicht nur für West und Ost, sondern auch innerhalb der jeweiligen Orts- und Landesgrenzen. Also generell überall.
Dabei soll der Tag doch genau das bezwecken, nämlich die Einheit zu symbolisieren und zu feiern. Dies war ja bereits der Beweggrund, überhaupt einen Tag der deutschen Einheit ins Leben zu rufen. Der Westen wollte dem Osten signalisieren: Wir sind ein Volk und somit in Gedanken bei Euch!
Der Tag der deutschen Einheit (übrigens mit kleinem „d“ geschrieben) war seit dem 4. August 1953 gesetzlicher Feiertag. Eben bis zum Einigungsvertrag von 1990, als der 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit (nun mit großem „D“) ernannt wurde. Aber wer erinnert sich überhaupt noch an die Vorgänge vom 17. Juni 1953? Gerade einen Monat nach der Geburt meines älteren Bruders – also noch zu Lebenszeiten vieler Deutscher – demonstrierten Einwohner des „anderen“ deutschen Staates (der DDR oder von Ewig-Gestrigen gerne als „Ostzone“ oder kurz „Zone“ betitelt), um so gegen Bodenreform und damit einhergehenden Enteignungen sowie Lebensmittelrationierungen, Preissteigerungen und steigenden Arbeitsleistungen bei gleichem Lohn zu protestieren.
Nach Streiks und Protestzügen an den Tagen zuvor kam es am 17. Mai zum großen Aufstand, bei dem zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen unter anderem in Berlin, Halle, Magdeburg, Leipzig und Dresden Kreisratsgebäude und Bürgermeistereien besetzten und Haftanstalten stürmten. Dabei wurden mancherorts die lokalen Herrschenden vorübergehend entmachtet.
Dagegen wehrte sich wiederum die herrschende Führung und staatslenkende Gewalt. Zur Hilfe kamen ihnen die Panzer und Soldaten von russischer Seite. Damals war dies noch ein Verband mit den sperrigen Namen UdSSR – Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Dazu gehörten Staaten wie Estland, Litauen, Lettland, Ukraine, Aserbaidschan, Weißrussland (das heutige Belarus), Georgien, Kasachstan, Armenien und ein paar anderen. Natürlich ziemlich unfreiwillig.
Das russische Unverständnis, die großzügige Protektion nicht nutzen zu wollen, sondern lieber einen eigenen unabhängigen Weg zu verfolgen, ist übrigens nach ebenfalls fast 30 Jahren in der Unterstützung von Belarus, die gerade ihren Staatschef mit unglaublichen offiziellen 80 Prozent (zu DDR- und UdSSR-Zeiten ein durchaus übliches Wahlergebnis) gewählt haben, und dem Druck auf die Ukraine, die gar frech behaupten, die Halbinsel Krim gehöre zu ihrem Territorium, wieder neu entfacht. „Welch‘ eine Frechheit!“, meinte Putin und leibte sich die Halbinsel so mal eben ein. Wie es der Traditionsgedanke so vorsieht natürlich mit Militärgewalt. (Ein Gerücht bleibt es indes, dass Putin dies nur wegen des – im übrigen nicht nur auf der Halbinsel angebauten – Krimsekts unternommen hat. Eine Boykottierung des Getränks sowie der in Jülich ansässigen Firma Simex als Generalimporteur wäre also wenig zielführend.)
Wer hingegen aber ein Signal setzen möchte, ohne sich mühsam durch fundierte Quellen zu quälen, findet hier vielleicht eine angemessen sprudelnde zur Inspiration. Anregend, aber ohne nachhaltige Erfrischung.
Gleiches gilt für Belege, dass die Bundeskanzlerin eine Gewaltherrschaft, die auf der Macht von wenigen basiert, auf deutschem Boden führen würde, wie es gerne von bestimmten Leuten kolportiert wird. Diese von Angela Merkel abgesegnete deutsche Diktatur zieht es im Gegensatz zu anderen momentan aktiven Diktaturen vor, den aufsässigen Protestlern das Versammlungsrecht wegen der Corona-Epidemie zu versagen. „Unverschämtheit!“, schreien diese und ziehen vor Gericht.
Dieses gibt ihnen grundsätzlich Recht. Schließlich gehört die Versammlungsfreiheit zum Grundrecht eines jeden Deutschen. Steht ja so im Grundgesetz. Wird dieses denn nicht von Reichsbürgern abgelehnt? Sie behaupten immerhin, dass Deutschland keine Verfassung hätte. Womit sie prinzipiell auch Recht haben. Das Grundgesetz gilt nur vorübergehend, hat sich immerhin aber auch schon 70 Jahre lang bewährt. Alles, was es ersetzen würde, kann eigentlich nur schlechter sein. Womöglich hätten dann die Richter nicht zugunsten der Demonstranten entschieden.
Vielleicht sollten wir doch wieder eine ordnungsmäßige Verfassung haben, damit wieder Recht und Ordnung in deutschen Landen herrscht. Damit wieder die Panzer rollen, Polizisten mit Schießbefehlen ausgestattet werden und von Soldaten dabei Unterstützung erhalten, um so Versammlungen kurz und problemlos auflösen zu können. Gott bewahre. Hinterher finde ich mich selbst noch zwischen all den ganzen Protestanten wieder. Wo man nicht nach rechts und links schauen darf, weil einem sonst von den windigen Visagen ganz übel wird.
„Wir sind das Volk!“ Oje, wie weit sind wir gekommen… Aber womöglich steht dann ein Großteil derjenigen mit Schlagstöcken und Maschinengewehren auf der anderen Seite und proklamieren weiterhin: „Wir sind das Volk!“ Es ist halt stets eine Frage des Standpunktes.
Apropos: Mein Standpunkt ist, dass es in einer Demokratie 5 bis 10 Prozent an Querulanten, Andersgläubigen, Deppen, meinetwegen auch Extremisten geben soll. Damit das Volk und seine Regenten immer den Spiegel vorgehalten bekommen und überlegen, ob das denn alles so seine Richtigkeit hat, was geplant, organisiert und entschieden wird. Die restlichen 90 Prozent sollten natürlich ebenfalls keineswegs bei allem völlig einmütig sein. Das nennt man Meinungsvielfalt und Streitkultur.
Und wenn dann alles ausgesprochen und geklärt ist, raufen sich alle wieder zusammen. Damit alle wieder in vertrauter Verbundenheit ein geschlossenes Ganzes ergeben. Eben eine starke Einheit.
So weit, so klar.
Voraussetzung ist immer: Es darf keine Gewalt im Spiel sein. Aber das gilt ja schließlich genauso für die restlichen 90 Prozent. Auch diese dürfen keine Gewalt auf die Minderheit oder sonst wen ausüben. Und wenn dies doch einmal passiert, dann gilt es immer abzuwägen, ob die Umstände bestimmte Vorgänge legitimieren. Genau dafür gibt es eine Gewaltenteilung in unserer Demokratie: Legislative, Exekutive und Judikative: Politik, Polizei und Gericht. Und dort kann es passieren, dass die staatliche Führung den Vollzugsorganen einen Auftrag gibt, nur um dann von der Rechtsprechung zurückgepfiffen zu werden.
So wie es die Richter im Fall der Anti-Corona-Demo in Berlin getan haben. In Diktaturen würden die Richter stattdessen beauftragt, doch bitteschön im Sinne der eigenen Ideologie zu entscheiden. Und wenn sie nicht wissen, was diese Ideologie besagt, können sie doch einfach nachfragen, bitteschön.
Und wenn sie dann immer noch kein Einsehen haben, gibt es noch die prima Funktion, Richter durch andere zu ersetzen, von denen man sich die Urteile erhofft, die einem angenehmer oder angemessener erscheinen. Eine einfache und äußerst wirkungsvolle Methode. So funktioniert Diktatur.
Aber wenigstens dort herrscht eine in sich geschlossene Ganzheit und Verbundenheit. Zumindest wirkt das Ganze so. Jedoch auch nur, wenn die Presseorgane und sonstigen Medien ebenfalls in Hand der Herrschenden sind und nichts anderes berichten dürfen.
„Wahrheit ist das, was funktioniert.“ Hat Buddha gesagt. Obwohl – man weiß es nicht genau. Denn auch mit Zitaten ist das so eine Sache. Sie werden gerne schon mal irgendwelchen historischen Personen zugeordnet, um dem Ausspruch mehr Ausdruck zu verleihen. Aber was tut man nicht alles für ein klein bisschen Einheitlichkeit.