In der Regel hat jeder Tag in der Woche seinen immer wiederkehrenden Rhythmus, einen immer gleichen Ablauf. Und da das allen so geht, kreuzen sich an bestimmten Stellen immer wieder die Wege von Leuten, die sich eigentlich gar nicht kennen, aber die irgendwann merken: „Ach, da war er wieder“ oder „da fährt sie ja.“
Seit Sommer 2012 sieht man auf der Strecke Jülich – Barmen immer an einem bestimmten Tag zur gleichen Zeit einen großen, jungen Mann mit voll gepacktem Rucksack kräftig in die Pedale treten und am Wochenende wieder zurück – egal bei welchem Wetter. Kerry Jago, Leiter der Overbacher Singschule, wohnt eigentlich in Bonn, pendelt aber seit mehr als eineinhalb Jahren jede Woche ausschließlich mit Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen Barmen und der schönen Stadt am Rhein.
Herzog: Hallo Kerry, mal ganz ehrlich: Warum tust du dir diese Strecke Bonn-Barmen allwöchentlich an und steigst bei Wind und Regen auf das Fahrrad?
Kerry: Um das zu erklären, muss ich wohl ein wenig ausholen. Es beginnt Ende 2000. Da habe ich schweren Herzens meine Lieblingsstadt – die neuseeländische Hauptstadt Wellington – verlassen, um nach Europa zu kommen und meinen großen Traum zu verwirklichen: ein Dirigierstudium in Deutschland. Ich habe schon als Jugendlicher die Musik geliebt und schnell gemerkt, dass sie mich in solchem Maße begeistert, dass ich sie auch zu meinem Beruf machen wollte. Mit Menschen zu arbeiten und Musik durch Gesten zu vermitteln und – (lacht) auch darüber zu quatschen – habe ich schon damals schätzen gelernt, aber es war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, Dirigieren als Hauptfach in Neuseeland zu studieren. Deswegen hieß es: ab nach Deutschland! Denn die hohe Qualität der Hochschulausbildung, die Vielfalt der musikalischen Landschaft hier und meine Vorliebe für die Sprache machten die Entscheidung ziemlich einfach.
Herzog: Okay, wir wissen jetzt: Du bist Neuseeländer und daher weite Strecken gewohnt. Aber gibt es noch einen weiteren Grund für deine wöchentlichen strapazösen Fahrten?
Kerry: Ja, ich liebe das Abenteuer (lacht). Im Ernst: Nach meinem Dirigierstudium konnte ich noch ein Studium für Gesang in den Niederlanden dranhängen und danach konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, nach Neuseeland zurückzukehren. Es gab aber einen Nachteil: Seit ich von Wellington weg war, hatte ich nie wieder das Gefühl gehabt, irgendwo zu Hause zu sein. Am Ende des Studiums wurde mir dann klar, dass ich in der Musik viele Tätigkeiten ausüben wollte: Singen, Dirigieren, Musiktheorie, pädagogische Arbeit, Chor, Orchester, alte Musik, neue Musik usw. Wie sollte das an einem einzigen Tätigkeitsort alles möglich sein?
Herzog: Du suchtest also einerseits hier in Deutschland ein Stück „Heimat” und dann noch den idealen Ort zum beruflichen „Austoben”?
Kerry: Ja, und ob das klappen würde, habe ich stark bezweifelt. Aber es kam anders. Im Sommer 2011 suchte ich nun eine Wohnung. Ich wollte aus rein logistischen Gründen irgendwo zwischen Baden-Württemberg und Holland leben, denn in diesen beiden Gegenden hatte ich bis dato die meisten meiner Engagements als Freiberufler bekommen.
Köln war mir aber zu teuer und – sagen wir mal – zu „speziell“. Deswegen habe ich in Bonn eine Wohnung gesucht. Dort lebte bereits eine gute Freundin von mir und als ich das erste Mal dort war, strahlte die Sonne vom Himmel. Ich hatte also gleich ein gutes Gefühl! Ich fand im gleichen Sommer eine Wohnung und fühlte mich in Bonn tatsächlich sofort wohl. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Bonn fast die gleiche Anwohnerzahl wie Wellington hat und immer noch etwas vom Flair einer Hauptstadt besitzt. Meine wunderschöne kleine Wohnung im Grünen am Rhein hat natürlich auch dazu beigetragen.
Dass ich als freiberuflicher Musiker, der in der Wohnung üben möchte, diese überhaupt angeboten bekam, grenzt an ein Wunder. Und dort fühle ich mich seit Wellington zum ersten Mal wieder zuhause, für mich ist es wie ein Paradies.
Herzog: Aus dem Paradies möchte natürlich niemand weg. Aber auch dann nicht, wenn ein verlockendes Angebot kommt?
Kerry: Das verlockende Angebot war in der Tat die Stellenausschreibung als Musikalischer Leiter der Overbacher Singschule im Sommer 2012. Deren Aufgabenbeschreibung las sich wie ein Wunschzettel! Ich konnte es im ersten Moment nicht glauben, denn ich hatte mich eigentlich schon damit abgefunden, dass meine Berufswünsche zu kompliziert waren, diese gewünschte Kombination zu bizarr war, um ein wahres musikalisches Zuhause zu finden. Und dann erfahre ich auf einmal nicht nur, dass es doch eine Einrichtung gibt, die dazu passt, sondern auch, dass sie gerade jemanden suchen!
Für mich war es klar, dass ich dort an der richtigen Stelle war – ein Gefühl, dass sich nur verstärkte, nachdem ich die Musiker der Overbacher Singschule kennenlernte.
Jetzt musste ich nur noch für mich klären: Kann ich diese Position annehmen, ohne Bonn verlassen zu müssen?
Als ich zweimal zum Vorstellungsgespräch und Probedirigat gekommen bin, habe ich unterwegs viel über diese Frage nachgedacht. Kann ich diese Reise jeden Tag auf mich nehmen? Nein. Und wie wäre es jede Woche hin und zurück? Gerade noch.
Inzwischen sind die Arbeit und die Musiker in Overbach mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich es mir jetzt sogar vorstellen könnte, noch viel weiter dafür zu reisen. Drei Züge und zwei Fahrräder – das geht eigentlich. Im Zug kann ich immer arbeiten, und wenn ich viel Rad fahre, dann brauche ich nicht zu joggen.
Ein Auto zu kaufen wäre vielleicht einfacher, aber solange es noch nicht notwendig ist, möchte ich das wegen der Umwelt nicht machen. Vielleicht sieht das in 20 Jahren anders aus, aber im Moment macht mein Körper das noch mit! Also, kurz gesagt: Leben in Bonn und arbeiten in Overbach, dort mit ganz vielen Menschen, Groß und Klein, Musik auf hohem Niveau zu machen, das alles gibt mir so viel Motivation und Spaß, dass nasses Wetter und schlammige Wege mir und meinem Fahrrad nichts anhaben können.