Der Winter 1901 muss besonders kalt gewesen sein. Die Ateliers im Bateau Lavoir in Paris waren zugig, die Fenster morsch und undicht und Doppelverglasung war nicht üblich. Picasso wird also wie alle übrigen Bewohner auch gefroren haben. Dass er aber Tausende von seinen Zeichnungen verbrannt hätte, um seinen Raum im Atelierhaus ein wenig anzuwärmen, das bezweifelte schon sein Dichterfreund Jaime Sabartes.
Überhaupt Atelierhaus, das hört sich toll an. Aber der Kunsthändler Henry Kahnweiler gab uns eine Schilderung davon: Überall Ratten. Die Tapeten hingen von den Wänden. Sie hatten sich von der Feuchtigkeit gelöst und hinter den Blechöfen türmten sich riesige Lavaberge ausgebrannter Asche. Zudem wird man in den Zwischenräumen der Bodenbretter die Schritte und Tritte der Mitbewohner gehört haben. Von Chaim Soutine, André Dérain und den ungezählten Vergessenen und das Gezeter zankender Paare erklang von Stockwerk zu Stockwerk. Im Museum Of Modern Art, so nehme ich an, ist es still, sehr still und gut beheizt und leise flüsternde Paare stehen vor den Gauklern, Artisten, Müttern, Randfiguren, die Picasso zu jener Zeit gerne ins Bild setzte.
Picasso war 1901 eiligst aus Barcelona und von seiner Familie, wohin ihn die Geldnot getrieben hatte, nach Paris zurückgekehrt. Sein Freund Casagemas hatte sich aus Liebeskummer im Lokal Les Quattre Chats vor den Augen der Angebeteten in den Kopf geschossen und getötet. Picasso machte sich Vorwürfe, dass er dem Freund hätte beistehen können, wenn er vor Ort gewesen wäre. Er malte den Toten ganz in Blau mit der roten Wunde an der Schläfe: es ist das erste Bild seiner berühmten blauen Periode.
Noch ein weiterer Grund für seine rasche Rückkehr nach Paris dürfte aber gewesen sein, dass der berühmte Kunsthändler Vollard ihm, dem völlig Unbekannten, eine Einzelausstellung angeboten hatte. Das war so unglaublich, dass er sich den Brief wohl von Freunden hat wieder und wieder übersetzen lassen, um sicher zu gehen, keiner Täuschung zu erliegen. Sein Französisch war noch schlecht, er hatte es sich auf den Straßen und Märkten angeeignet.
Angespornt malt Picasso bis zu drei Bilder am Tag. Er arbeitet im Atelier von Casagemas, da dort die Miete bezahlt ist. Er schläft auch in dessen Bett und als die fatale Freundin des Freundes auftaucht, beginnen sie im blauen Licht der Gaslampe ein Verhältnis miteinander.
Es gibt eine Theorie, dass das Gaslicht überhaupt der eigentliche Grund für die blaue Periode gewesen sei. Gaslicht absorbiert die gelben Töne des Spek-trums, also auch Grün, Orange, Ocker usw. Gaslicht und dazu vielleicht einen Hut mit versteifter Krempe, um die brennenden Kerzen zu tragen und mit einem Spiegel als Reflektor an der Stirnpartie, so wie sich sein Landsmann Goya porträtiert hatte.
Blaue Bilder setzen in der Kunstgeschichte spät ein. Das erste, fast ausschließlich Blaue ist wohl Caspar David Friedrichs „Die gescheiterte Hoffnung“, auf dem das von den Eisbergen der Restauration eingeschlossene, symbolische Schiff Hoffnung endlich zerdrückt wird. Dieses späte Auftauchen mochte auch an dem damals nahezu unbezahlbaren blauen Farbstoff gelegen haben, aber es ist vornehmlich ein philosophisches Problem. Blaue Blumen gab es ja schon immer, aber die blaue Blume entsteht erst mit der Romantik.
Auch Picassos blaue Periode ist die eines romantischen jungen Mannes und dieses Mitleiden wird später nie wieder auftauchen. Denn Picasso ist nicht nur Spanier, sondern er stammt aus der Hochburg des spanischen Machismo, aus Andalusien. Und Machismo, das ist Hochmut, Posieren und Selbstinszenierung von Kälte und die typischen spanischen Kunstformen, der Stierkampf und der Flamenco, sind trotz all ihres zur Schau gestellten Feuers hochmütig und kalt und all dies gilt auch für die meisten spanischen Künstler.
Velasquez zeigt sich im Gemälde Las Meninas sonst unsichtbar im Dunkel aus einem Spiegel spähend wie das Auge Gottes. Auch sein gnadenloser Großinquisitor, der in Begriff ist, ein Bittgesuch zu verwerfen, schaut mitleidlos aus dem Gemälde. Zurbarans erstarrte, wie keimfreie Stillleben oder Dalis verrinnende Zeit der sich deformierenden Uhren sind von dieser zur Schau gestellten Kälte.
Das alles gilt auch für Picassos zu Recht berühmtes Bild Guernica, das die Schrecken des Bombenkrieges schildern will. Aber alles darin ist zweidimensional. Der Betrachter wird nicht mitfühlend in etwas hineinversetzt. Guernica löst weder Emotionen noch Betroffenheit aus, es ist so empathisch wie ein Aztekentempel oder eine ägyptische Grabkammer. Aber es ist ein kreatives Gewitter, das er auf einer Fläche von ca. 3,5 x 8 Metern abbrennt, ein cerebrales und artistisches Nordlicht. Dagegen spielen die Nachgeborenen alle nur Luftgitarre.
Und diese Kälte hat nichts Skandalöses. Auch die Kreuzigungen sind in ihrer Darstellung ja anfangs kalt, gleichsam schmerzfrei. Sie bedienen ein Signal im christlichen Zeichensystem: Christus ist der Herr, auch am Kreuz. Er überwindet den Tod. Das Blutige und das Verrecken und damit das Säkulare des Zweifels kommen erst mit der Renaissance. Das Mitgefühl wächst erst sehr spät und wie ein spärliches Moos auf den Ecken und Kanten der Geschichte. Und Spanien kennt keine Renaissance: es ist geprägt von der maurischen Fremdherrschaft und der Inquisition und dem Männlichkeitswahn des Machismo.
Picasso wächst in einem Frauenhaushalt auf. Der Vater unterweist ihn zwar in akademischer Malerei, aber danach sitzt er im Cafe und der Sohn zieht sich die geballte Aufmerksamkeit des weiblichen Haushalts zu. Später kompensiert er das vielleicht durch das stetige Auswechseln seiner weiblichen Bezugspersonen. Und mit jeder Frau ändert er seinen Stil. Von 1901 an signiert er nicht mehr mit dem Allerweltsnamen des Vaters Ruiz sondern mit dem der Mutter: Picasso. Seine Mutter, Schwestern und Tanten prophezeien, dass er als Soldat ein General und als Priester der Papst werden würde. Aber dass er als Maler ein Picasso werden sollte, das konnten sie nicht ahnen.